Rotkäppchen und der unberechenbare Wolf

 Ein Märchen über Video on Demand und das deutsche Fernsehen

von Christine Blaich

Es war einmal…

Wer kennt es nicht, das Märchen von Rotkäppchen, der kranken Großmutter und dem bösen Wolf, erzählt von den Gebrüdern Grimm. Und ganz gleich, wie alt diese Geschichte ist, wie sie interpretiert werden kann – sie ist hochaktuell und ihr Ausgang kann immer wieder neu erzählt werden.

Es waren einmal sehr viele Zuschauer – Rotkäppchen – , die sich immer wieder auf den Weg begaben zur alten, kranken Großmutter – dem deutschen Fernsehen. Alt? Krank? Die ARD? Das ZDF? Ja, genau die. Was noch vor 50 Jahren „high advanced technology“ war, hochmodern und deshalb eine anziehende und fesselnde Attraktion, ist heute längst nicht mehr das Maß der Dinge. Wann habe ich mich zuletzt vor meinen Fernseher gesetzt, ohne etwas anderes nebenher zu tun? Ohne nebenbei den Berg an Bügelwäsche abzuarbeiten, aufzuräumen, Nachrichten über mein Smartphone zu verschicken oder mit jemandem zu reden? Mich komplett dem Film hinzugeben und alles andere auszublenden – selbst die Tatsache, dass das, was ich gerade sehe, nur der zweidimensionale Schirm ist und nicht die dreidimensionale Lebensrealität? Weil die Geschichte, die ich sehe, mich so sehr in ihren Bann zieht? „Lagerfeuersituation“ nennt das Dirk Gieselmann, Gewinner des Grimme Online Awards 2013. Was fällt mir denn noch auf am Fernsehen, außer den Nachrichten, viel zu langen Werbeunterbrechungen und zeitlich genau zugeschnittenen Spielfilmen? Kann mich das, was ich sehe, überhaupt noch begeistern?

Auf dem Weg zu eben jener alten, kranken Großmutter wich Rotkäppchen vom Weg ab. Es hatte nämlich – wenn es ganz ehrlich zu sich selbst war – keine Lust mehr, die alte, kranke Großmutter zu besuchen. Warum auch? Die letzten Wochen, als es dieser Besuche abgestattet hatte, hatte die Großmutter abwesend gewirkt, bei Weitem nicht mehr so vital und kreativ wie früher. Sie konnte Rotkäppchen keine spannenden Geschichten mehr erzählen, sondern kam immer wieder mit ähnlich langweiligen Sätzen und Textbausteinen daher. Früher hatte Großmutter so spannende Geschichten erzählt – jede Woche hatte es ein neues Abenteuer gegeben: von einem Hund, der Verbrecher entlarvte, einem Delfin, der Menschen rettete, einem Mädchen in den Bergen, das mit seinem besten Freund so viel Spannendes erlebte. Wie gerne würde Rotkäppchen wieder einmal ein Abenteuer er- leben! Missmutig vor sich hertrottend schlenkerte Rotkäppchen seinen Korb, gefüllt mit Kuchen und Wein – den Einnahmen der GEZ. Es brauchte seinen Blick nicht weit schweifen zu lassen, schon erlangte eine Bewegung hinter den hohen Bäumen seine Aufmerksamkeit. Der Wolf! Rotkäppchen kannte ihn nicht, wusste nichts über dieses Wesen, und – neugierig und abenteuerlustig wie es war – sprach es ihn an. „Ich bin der liebe Wolf. Und kann dir viele tolle Geschichten erzählen, von Rittern und Rettern, Familien und Fabelwesen, Liebe und Leid, Krisen, Kämpfen und Siegen.“ Das war die Lösung für Rotkäppchen! Da war endlich jemand, der ihm aus seiner misslichen Lage helfen konnte!

Genau das ist der wundersame Erfolg von Video on Demand (VoD). Noch vor zehn Jahren ein unbekanntes Phänomen, heute gängige Praxis: Mit einem seit 2005 durchschnittlichen Wachstum von fast 100% jährlich ist VoD längst nichts Unbekanntes mehr. Immer mehr Konsumenten lassen sich von diesem Konzept begeistern: Anschauen was ich will, wann, wo und wie oft ich es will. Ohne an ein Programm gebunden zu sein, ohne mich gedulden zu müssen, bis die nächste Folge meiner Lieblingsserie ausgestrahlt wird. Individuell, angepasst an mich und meinen Alltag. Ein gutes Konzept zum richtigen Zeitpunkt. Denn was dem deutschen Fernsehen fehlt, sind gute Geschichten. Geschichten, die die Zuschauer fesseln, die sie gefangen nehmen und vollkommen in ihren Bann ziehen.

Wir leben in einer Zeit, in der überall Gelder gestrichen werden – auch im Fernsehen. Die öffentlich-rechtlichen Sender kochen jeweils getrennt voneinander ihr eigenes Süppchen, sodass von vornherein nicht ein unbegrenzt großes Budget vorhanden ist. Wenn aber an den Ausgaben für die Fictionabteilung gespart wird und das meiste Geld an irgendwelchen Stellen hängenbleibt, nur nicht dort, wo es gebraucht wird – bei Produktionen, die wirklich Geschichten erzählen – , dann stimmt etwas nicht! Dann ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen tatsächlich krank und sieht tatenlos zu, während es aufs Abstellgleis gefahren wird und irgendwann von der Bildfläche verschwinden wird. Das Fernsehen braucht also dringend einen Rettungsplan, der es aus dem Abseits herausmanövriert. Es muss seine Vorteile als letzte Chance nutzen und neue Wagnisse eingehen. Und das möglichst schnell!

Ein Vorteil, den das Fernsehen unbestreitbar hat, ist, dass ich mit dem Gerät Fernseher zumindest nichts Paralleles anfangen kann. Wenn ich vor meinem Laptop sitze und noch nicht ganz in der Geschichte versunken bin – also noch nicht gänzlich der Lagerfeuerromantik verfallen bin – , kann ich nebenher die E-Mails beantworten, die schon seit Tagen darauf warten, beachtet zu werden, bestelle Urlaubslektüre, informiere mich darüber, was der Rest der Welt in den vergangenen Tagen gemacht hat. Ich bin durch das Medium selbst verführt, neben dem, was ich eigentlich tun möchte, multitaskingfähig zu werden und dabei doch nur die Hälfte des Films ernsthaft zu verfolgen.

Versetzen wir uns einmal in die Lage unseres neuen Rotkäppchen hinein: Es ist nur natürlich, dass es sich anhört, was der Wolf ihm zu sagen hat. Aber es kann ihn noch nicht einschätzen, weiß also noch nicht, ob es sich um einen gefährlichen, bösen, oder um einen lieben, guten Wolf handelt. Das muss es erst noch herausfinden. Am besten unter Einsatz seines gesunden Menschenverstandes.

Was also bringt mir VoD? Die Vorteile liegen klar auf der Hand: Als selbstbestimmter und mündiger Bürger gefällt es mir natürlich nicht, mich an vorgegebene Zeiten von Fernsehprogrammen zu halten – als Teil einer individualistischen Gesellschaft stelle ich mir doch viel lieber mein eigenes Programm zusammen, nutze freie Zeiträume, um mir einen Film nicht vor dem Fernseher anzusehen, sondern im Zug, wenn ich sowieso nichts Besseres zu tun habe, als aus dem Fenster zu schauen und mich über Mitreisende zu ärgern. Außerdem ist es doch toll, wenn das ich Happy End nochmals anschauen kann, weil es so schön war, anstatt aus der gekürzten Version des Fernsehprogramms – weil der Film in ein Raster zu passen hat – durch den katapultartigen Rausschmiss – durch die sofort eingeblendete Werbung für den nächsten Krimi und die Nachrichten – plötzlich aus der Welt des Films in die Wirklichkeit meiner Umwelt gerissen zu werden.

Anbieter von VoD wissen zudem genau, wie ich Serien am liebsten anschaue: ohne gespanntes Warten auf die nächste Folge, ohne ständiges Wiederholen „Was bisher geschah“, ich muss mich nicht einmal beeilen, rechtzeitig zu Hause zu sein, denn ich kann selbst entscheiden, wann ich mir die gesamte dritte Staffel meiner Lieblingsserie anschauen möchte. Nett, dass mir damit ermöglicht wird, Zeit einzusparen, denn wenn ich an einem Tag eine gesamte Staffel anschaue, brauche ich nicht zu wissen, was vor einer Stunde in der Geschichte passiert ist. Dieses kontinuierliche Schauen ermöglicht mir auch, dass ich wirklich im Plot versinken kann und mich nicht jedes Mal beim Einschalten neu in die verschiedenen Figuren hineinversetzen muss. Mitfiebern, mich ganz in der Geschichte verlieren – kurz: Lagerfeuerromantik pur. Das sind unbestreitbare Vorteile und perfekt in den Alltag integrierbar, sagen die einen. Lieber Wolf!

Komaglotzen sagen die anderen. Böser Wolf! Bisher liegt noch keine Studie über die gesundheitlichen Folgen einer Dauernutzung von VoD vor. Dass es aber nicht natürlich ist, ein Wochenende passiv auf dem Sofa zu sitzen, VoD-zu-sehen und zwischendurch etwas zu essen, sagt einem der gesunde Menschenverstand. Ist es also vielleicht doch nicht das Glück auf Erden, wenn ich alles anschauen kann, was ich will, so oft, wann und wo ich es will? Ich gebe zu: Es hat seinen Reiz, aber bin ich bereit, mich gerade dadurch von etwas anderem als einem Fernsehprogramm steuern zu lassen? Denn wenn mir eine gesamte Staffel von „Doctor‘s Diary“ oder „Game of Thrones“ zur Verfügung steht – warum sollte ich in der Mitte abbrechen, um schlafen zu gehen? Was auf der einen Seite zu Lagerfeuerromantik führt, ist auf der anderen Seite blockartiges „Fernsehen“, stundenlanges Sitzen auf demselben Fleck, ohne Bewegung, ohne Tageslicht. Das allein ist nicht das Problem. So geht es jedem, der über längere Zeit im Flugzeug, Zug oder Vorlesungssaal sitzt. Aber ist die Veränderung nicht eine viel tiefergehende?

Das Wort „warten“ – das es in Zeiten von VoD im Bereich der visuellen Medien nicht mehr geben muss – hat verschiedene Wurzeln, die unterschiedliche Fokusse legen. So bedeutet das mittelhochdeutsche Wort „ausschauen, erwarten“, das angelsächische „behüten, bewachen, versorgen, sich hüten“. Alle Wurzeln deuten auf die positive Seite des Wartens hin: dass man sich selbst vor etwas bewahrt durch das Warten, dass man Sorge trägt um etwas, dass man etwas erwartet. „Vorfreude ist die schönste Freude“ – das gilt kurz vor dem Urlaub, vor dem Geburtstag oder einem anderen besonderen Erlebnis. Wenn ich schon eine Woche vor Weihnachten all meine Geschenke bekäme, wäre das für den Moment schön. Aber tut es wirklich gut, wenn man auf nichts mehr warten muss? Wenn man die Spannung nicht mehr aushält, etwas nicht sofort und auf Knopfdruck zu bekommen, sondern zu lernen, sich zu gedulden und in gespannter Erwartung zu warten, bis sich erfüllt, worauf ich hoffe?

Wer einen Blick auf die KIM-Studie der letzten Jahre wirft, wird schnell feststellen, dass es eine eindeutige Verschiebung in Richtung neuer Medien gegeben hat. Zwar ist das Internet noch ebenbürtig mit dem Fernsehen, jedoch nimmt das Hereinwachsen der Medien in den Alltag der Kinder immer mehr zu und gewinnt an Normalität. Das ist gut, solange es Kinder und Jugendliche fördert. Sobald es aber den jungen Menschen etwas abgewöhnt, was sie dringend brauchen, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, ist das alles andere als gut. Wie soll man auch lernen können, dass man im Leben nicht alles sofort bekommt, was man sich wünscht, dass sich nicht alles nach einer Person – dem Ich – richten kann, wenn man noch nie etwas Gegenteiliges erlebt hat? Zugegeben: Das klingt schwarzmalerisch. Aber es drängt sich mir schon die Frage auf, ob Marshall Mc Luhan, einer der bedeutendsten Medienwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, in unserer Gesellschaft nicht ein perfektes Beispiel für seine Thesen fände. Er beschreibt die Veränderung des Individuums durch den Gebrauch von verschiedenen Hilfsmitteln, also Medien. Durch die Erfindung des Rades müssen wir nicht mehr alle Strecken zu Fuß zurücklegen, wenn wir ein Auto zur Verfügung haben. Natürlich möchte niemand sein Auto missen, aber es macht faul – und vor allem baut die Muskulatur ab. Kein Mensch würde heute noch solch enorme Strecken ohne Jammern zu Fuß zurücklegen können, wie es unsere Großeltern noch tun mussten. Mc Luhan spricht hier von Amputation; das Medium ist die Prothese, die die natürlich angeborenen Fähigkeiten ersetzt und dadurch immer mehr verschwinden lässt. Man verlernt sie schlichtweg. Amputiert unsere Gesellschaft nicht gerade wesentliche Teile ihrer selbst? Durch die wachsende Erwartungshaltung über alles hier und jetzt frei verfügen zu können und die Vernetzung unterschiedlichster Medien, Cross Media, verändert sich unsere Umwelt ohne Zweifel und sie wird es weiter tun. Wie endet denn nun unser Märchen? Es ist die Entscheidung eines jeden Einzelnen, ob Rotkäppchen vor dem Wolf kapitulieren muss und gefressen wird – ebenso wie die Großmutter. Oder ist der Wolf lediglich ein hilfreicher Wachhund, der Rotkäppchen vom drohenden Tod der Großmutter ablenkt? Allerdings wäre das nicht mehr erforderlich, würde die Großmutter wieder gesund werden.

Gute Besserung also, liebe Großmutter!

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