THEY SHALL NOT GROW OLD (Wie weit darf Restauration gehen?)

They Shall Not Grow Old Artwork_Colourised footage artistic rendition 2018 - THEY SHALL NOT GROW OLD by WingNut Films with Peter Jackson.  Original black and white film © IWM.jpg
Colourised footage artistic rendition 2018 – THEY SHALL NOT GROW OLD by WingNut Films with Peter Jackson.

Von Julia Fischer.


Seit Jahren wird die immer fortschrittlichere digitale Animationstechnik, die im aktuellen Kinofilm angewendet wird, von Filmkritikern und Regisseuren kritisiert. CGI (= Computer Generated Imagery oder auch durch Bildsynthese erzeugte/animierte Bilder) nehme den Filmen den Bezug zur Realität, die Echtheit und entziehe dem Film die Menschlichkeit. Doch gleichzeitig galt besonders im Fantasy- oder Actionkino die Verwendung dieser Technologie als bahnbrechend, um Bilder zu erzeugen, die nicht von dieser Welt schienen und den Zuschauer weit wegtrugen. Ob im Star Wars Universum, durch Dinosaurier in Jurassic Park oder in der Welt von animierten Spielzeugfiguren in Toy Story – all diese Filme galten gerade wegen der dreidimensionalen Animation als für ihre Zeit revolutionär. Hier sicherlich auch zu erwähnen ist die „Herr der Ringe“-Trilogie unter der Regie von Peter Jackson, der die Technologie damals brillant einsetzte, um die fiktive Landschaft und Welt auf Mittelerde darzustellen.

Nun präsentiert sich der Regisseur mit einem für ihn sehr ungewöhnlichen Projekt. Peter Jackson, der neben den berühmten Verfilmungen der J. R. R. Tolkien Fantasy-Romane für Splatter-Kultfilmen wie „Bad Taste“ oder „Braindead“ bekannt ist, widmet sich nun im Auftrag des British Imperial War Museum einer dokumentarischen Aufbereitung der Kriegserfahrungen von britischen Soldaten im Ersten Weltkrieg.

Eigentlich verwendete Jackson die Animationstechnik in seinen berühmten Verfilmungen, um die erzeugten Bilder unserer Realität zu entziehen und eine fiktionale, magische Welt zu kreieren. Nicht aber in seinem neusten Werk: in „They Shall Not Grow Old“, werden historische Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg verwendet und mittels der fortschrittlichen Technologie so bearbeitet, als würden sie aus einer viel neueren Zeit stammen: die Aufnahmen sollen an die Wirklichkeit des Gezeigten herankommen.
Doch schafft es dieses Verfahren, dem vorgeworfen wird dem Film die Menschlichkeit und Realität zu entziehen, in diesem Projekt den Bildern erst die Menschlichkeit und Realität einzuhauchen?

Zum Film

Zum 100-jährigen Jubiläum des Ende des Ersten Weltkriegs feierte der dokumentarische Film „They Shall Not Grow Old“ in London seine Premiere. Dabei verwendete der Regisseur ausschließlich historische Aufnahmen des Imperial War Museum-Archivs, die nachträglich restauriert, koloriert und 3D-animiert wurden. Zu diesen Bildern hört man Interviews aus dem BBC Archiv (aus der Dokumentarserie ‚The Great War’ von 1964), in denen sich britische Soldaten nach Jahrzehnten an die Jahre an der Westfront erinnern und von ihren Eindrücken lebhaft und unverstellt erzählen.

Dabei teilt sich der Film in drei Abschnitte auf: die Erzählung beginnt am 4. August 1914, der Tag an dem England Deutschland den Krieg erklärte. Man verfolgt viele junge Männer, die sich zum Militärdienst melden und begleitet die kurze Ausbildung im eigenen Land. Es zeichnet sich eine weit verbreitete Unwissenheit über den bevorstehenden Krieg und dessen Hintergrund und Ausmaß ab. Zu diesen Schilderungen verwendet Jackson Video- und Bildmaterial, welches beinahe am Originalzustand bleibt: in Schwarz-Weiß, nur wenig restauriert oder bearbeitet. Als sich der Film inhaltlich an die Front zwischen Frankreich und Deutschland bewegt und die Soldaten ihren Dienst antreten, öffnet sich das Format auf die Breite der Kinoleinwand und die Bilder werden bunt, scharf und flüssig und bekommen wegen der dreidimensionalen Bearbeitung eine Tiefe und Lebendigkeit, die man so von Bildern dieser Zeit noch nie gesehen hat. Die Ebene der kommentierenden Zeitzeugenstimmen, der über 100 Veteranen, bleiben als Element bestehen.

Der Film bewegt sich dabei ständig zwischen sehr anschaulichen Schilderungen der Brutalität und des Schreckens des Krieges und weniger schrecklichen Begebenheiten an der Front, wie dem Zusammenleben der Soldaten, der Freizeitgestaltung und den hygienischen Zuständen, die von den ehemaligen Soldaten belustigt erzählt werden.

Der dritte Abschnitt knüpft ästhetisch wieder an die Einführung des Films an: Die Bilder verwandeln sich zurück zum alten Schwarz-Weiß-Look, synchron zur Heimkehr der Soldaten nach Ende des Krieges. Eine Resignation macht sich breit, keiner empfängt sie wie erwartet. Man führte jahrelang an der Front ein Leben in einer Parallelwelt, das Zurückkommen ist Erleichterung und Bodenlosigkeit zugleich.

Produktion

Jackson wählte aus über 100 Stunden Stummfilmmaterial und 600 Stunden Tonmaterial seine Szenen, Bilder und Kommentare aus. Nicht nur die Bildqualität wurde nachträglich geschärft, koloriert und teilweise animiert, auch die Abspielgeschwindigkeit der Videos (damals musste man bei vielen Videohandkameras noch selbst kurbeln und die Framerate lag bei ca. 10 bis 16 Bildern pro Sekunde) wurde nachträglich angeglichen und fehlende Bilder errechnet, um ein flüssiges Bild zu erhalten, ohne das typische Ruckeln und Flackern der alten Stummfilme beizubehalten.

Darüber hinaus entschied sich der Regisseur die stummen Aufnahmen mit Soundelementen und Dialogen zu versehen, die diegetisch im Bewegbild festgehalten sind. Für die später eingesprochenen Dialoganteile, ließ sich man sich von Lippenlesern das Material untersuchen und versuchte so die Gespräche der Soldaten zu rekonstruieren. Durch all diese technischen Mittel nähert sich das Bild ästhetisch unserer Zeit an und dem Zuschauer soll es so gelingen die Distanz zwischen diesen 100 Jahren kleiner werden zu lassen.
Das reale Bildmaterial wird durch Illustrationen, zeitgenössische Zeichnungen und Karikaturen ergänzt. Der Film verzichtet auf einen Erzähler oder eine Voice-Off Stimme, die einen durch den Film leitet, dies übernehmen nur die Stimmen der Veteranen zu den Bildern. Auch die Filmmusik (von dem neuseeländischen Trio Plan 9) wird sehr dezent verwendet – man soll sich völlig auf die kommentierenden Stimmenund die Bilder konzentrieren können.

Der Aufwand der Restaurierung der Filmaufnahmen bis ins Detail war wohl enorm: Für die Farbauswahl der Nachkolorierungen nahm man die historischen Uniformen aus dem Imperial War Museum zum Abgleich und die Geschwindigkeitsanpassung und die Erzeugung der fehlenden Bilder pro Rate wurde sehr natürlich angepasst. Die Sound-Nachstellungen wurden ebenfalls durch historischen Waffen und Geräte erzeugt und die Lippenleser untersuchten nicht nur den Inhalt der Dialoge, sondern auch deren englische Dialekte zu erkennen, um diese dann von Schauspielern einsprechen zu lassen.
Der Film bleibt recht unpolitisch und nimmt keine Seite des Krieges ein, obwohl nur aus Sicht der britischen Soldaten erzählt wird. Die Veteranen berichten häufiger über Mitgefühl und Respekt für die Gegner, den man sich an der Front beidseitig entgegenbrachte, als über Hass und Rachegelüste zu sprechen. Am meisten schwingt wohl unter allen Beteiligten langsam die Erkenntnis mit, dass dieser Krieg vermeidbar gewesen wäre und wie sinnlos man sich auf dem Schlachtfeld tötete.

Eine Dokumentation?

„Ich konnte machen was ich wollte, die einzige Bedingung war, ausschließlich Material aus dem Museumsarchiv zu verwenden.“, sagte der Regisseur in einem Interview über die Zusammenarbeit mit dem IWM.

Man erfährt viel über die Euphorie der jungen Soldaten, über naive Unwissenheit, was einen an der Front erwartet und über die Kameradschaft und das Leben der Soldaten im Krieg. Trotzdem werden die Stimmen der Veteranen sehr speziell ausgesucht, denn die Interviewsequenzen berichten stets nüchtern, manchmal auch belustigt aber nicht emotional berührt oder ergriffen von den Erlebnissen – auch wenn es um schreckliche Themen wie das effektive Töten der Gegner oder den Tod von Kameraden geht.
Die Begrenzung der Betrachtung des Krieges ist unter anderem der eigenen Limitierung auf das Archivmaterial des IWM geschuldet. Man sieht das Geschehen nur aus der Sicht der britischen Soldaten an der Westfront, andere Fronten, andere Involvierte (Ärzte, Politiker, Familienangehörige) die Gegner des Krieges, der Verlauf oder die Kriegsbündnisse des Ersten Weltkriegs bekommen in diesem Film keinen Platz eingeräumt, was dem Film vorgeworfen wurde. Diese Begrenzung schafft zugleich aber auch eine Fokussierung und Intensivierung – man glaubt bestimmte Soldaten vier Jahre lang zu begleiten und nicht einen objektiven, rein informativen Überblick zu erhalten.

“We’re simply taking 100-year-old footage that looks appalling … We’re not adding anything that wasn’t there on the day it was shot. We’re simply bringing it back to what it was 100 years ago. That’s exciting, because in doing so we’re bringing these guys back to life.”
(Einfach gesagt nehmen wir 100 Jahre altes Material, dass entsetzlich aussieht … Wir haben nichts hinzugefügt was nicht vorher, am Tag als es gefilmt wurde, schon da gewesen wäre. Wir haben es einfach zurückgeholt, wie es vor 100 Jahren war. Das ist interessant, weil durch dieses Vorhaben die Menschen dieser Zeit wieder lebendig wurden.)

Peter Jackson betonte in Interviews häufig, es sei nichts zum Bild hinzugekommen, was nicht schon existiert habe. Trotzdem wird man im Kino einige Male stutzig und fragt sich: Wie stark wurde in dieses Bild eigentlich eingegriffen? Der Begriff „Restauration“ ist in diesem Sinne dehnbar – Wie lange handelt es sich nur um die Verbesserung der Qualität und wo endet diese. Darf man eine Explosion einer Miene durch CGI nachträglich noch gewaltiger, noch größer aussehen lassen, kann man mit Sicherheit behaupten, man erkenne, was die Soldaten dort sagen und es dann einsprechen lassen? Trotz der Informationen über die Produktion dieses Projektes, war ich mir im Kino manchmal nicht mehr sicher, wie frei man hier den Begriff „Restauration“ interpretiert hat. Der Rauch der Einschläge und Explosionen sieht einfach gesagt viel zu sehr nach fiktionalem Kino von heute aus und die Gefahr ist groß dem Wunsch nach fantastischen Bildern zu sehr nachzugeben und die historischen Aufnahmen durch zu viel Bearbeitung schließlich zu verfälschen. In kurzen Szenen glaube ich zu bemerken, dass der nachträglich hinzugefügte Dialog und Ton nicht immer diegetisch im Bild zu entnehmen ist, zu oft schwenkt die Kamera um und man hört noch Stimmen weiterreden, die nun nicht mehr direkt im Bild sind.

Um den hohen dokumentarischen Erwartungen nachzukommen, die Jackson in Interviews betont, müsse dafür komplett offengelegt sein, wie bearbeitet wurde, mit welchen Effekten oder welcher Bildsynthese hier gearbeitet wurde und wie genau man das Zusammenführen oder Hinzufügen von Sprach- und Tonmaterial zum Bild vorgenommen hat.

Und wie ist das Ganze gelungen?

They Shall Not Grow Old ist trotz dem nicht vollständig aufgeklärten Produktionsvorgang ein erstaunliches Zeitdokument, welches einen Einblick in eine Zeit ermöglicht, die man so nah und anschaulich wohl noch nie bekommen konnte.

Was einen tief bewegt, ist die mechanische und gefühlskalte Art des Tötens und der Ton, mit dem die ehemaligen Soldaten darüber erzählen – Töten war ein Auftrag, eine Arbeit, Normalität des Kriegsalltags – schaurig und schockierend für eine Generation zu hören, die noch nie mit solch einem Krieg wahrhaftig in Berührung kam.
In der Härte und Ehrlichkeit der Erzählungen kommt es sicherlich auch zu politisch unkorrekten Aussagen, zynischen Kommentaren oder pietätslosen Geschichten, die belustigt erzählt werden. Der Film zeigt aber auch viele ungewöhnliche Szenen des Krieges, Bilder die man nicht aus Kriegsfilmen oder Geschichtsbüchern kennt, über sanitäre Verhältnisse, dem Lausbefall, den Schlafrhythmen, der Körper- und Kleidungspflege und zuletzt auch welcher Humor und Ton unter den Kameraden herrschte.
Dieses Projekt ist nicht unbedingt ein Geschichtsfilm über den Ersten Weltkrieg, sondern eher eine kleine Zeitreise an Ort und Zeit des erzählten Geschehens, die man als Zuschauer miterlebt. Und es ist wahr, durch die Qualität der Bilder wird man noch mehr hineingezogen in diese Welt, die man sonst nur von Texten, Fotografien, Erzählungen oder den flimmernden, körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ohne Ton kannte.

Ob einem dieser durchdringend nüchterne Ton dabei gefällt, ist Geschmacksache. Sicherlich wollte Jackson auch so einen informativ-dokumentarischen und nicht gefühlsaufgeladenen Blick behalten. Und dieser Ton überträgt sich auch auf den Zuschauer. Bei den Bildern und Erzählungen ist dieser Film wohl ehrlicher und härter als jeder fiktionale Kriegsfilm, den ich bisher gesehen habe, trotzdem ergreift es einen im Kino nicht so stark, da man zu keiner Person einen Bezug aufbaut und auch fast niemand im Film emotional bei den Erzählungen wird. Die gezielte Menschlichkeit wird zumindest nicht auf der emotionalen Ebene erreicht. Es entsteht durch die Restauration zwar ein visueller Eindruck, der eher an die reale Sicht der Soldaten heran kam, aber die Verbesserung hat ihre Grenzen, ein natürlicher Look ist aus diesem Material einfach nicht rauszuholen. Durch die Kolorierung und 3D-Animation bekommen die Aufnahmen zugleich eben etwas Surreales,  Künstliches. Es gelingt nicht die Wiedererweckung dieser Zeit ins Heute, sondern ein ästhetischer, ansehnlicher Look über altem historischen Material.

Ungeklärt bleibt trotzdem, ob gerade diese Tatsache den objektiven dokumentarischen Wille oder doch eine gewollte, ausgesuchte Haltung präsentiert und damit zu sehr ästhetisch, wie künstlerisch eingegriffen wird.


© Für das Foto: Original black and white film © IWM (https://www.iwm.org.uk/events/peter-jackson-they-shall-not-grow-old)

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