am Beispiel von Bachs Goldbergvariationen
von Alexander Quadt
Vergleicht man die Interpretationsansätze der sogenannten „historische Aufführungspraxis“ mit modernen Deutungen der gleichen Stücke, so gilt es zunächst, die verschiedenen zugrundeliegenden Anspruchshaltungen zu verdeutlichen.
Die Vertreter der historischen Sicht der Interpretation streben nach einem möglichst authentischen Klangbild sowie einer der jeweiligen Epoche entsprechenden Gestaltungsansatz. Sie nehmen dabei auf aktuelle, gelernte und akzeptierte Klanggewohnheiten bewusst keine Rücksicht. So kann z.B. ein konsequenter Verzicht auf das in den letzten 100 Jahren etablierte und für „normal“ erachtete Streichervibrato auf objektiver Ebene nicht als klangschön charakterisiert werden.
Für die Anhänger einer zeitgemäßen, d.h. aktuellen Interpretationsweise steht aber weniger der authentische Klang als eine künstlerisch und ästhetisch überzeugende Ausdeutung im Vordergrund. Diese Ausdeutung aufgrund des oftmals fehlenden Bezugs zur Entstehungszeit als „zeitlos“ zu beschreiben wäre jedoch zu kurz gedacht, da auch die konservativen Geschmäcker der Musikwelt einer ständigen Entwicklung unterzogen sind. So werden die Bach-Interpretationen eines Wilhelm Kempff in heutiger Zeit auch von den Anhängern einer zeitgemäßen Interpretationsweise oftmals als überromantisiert und altmodisch kritisiert, während sie vor 50 bis 60 Jahren durchaus dem damaligen Musikgeschmack entsprachen.
Es ist offensichtlich und unbestreitbar, dass die heutige Aufführungspraxis barocker Musik in der Mehrheit ihrer Merkmale nicht den Gepflogenheiten des 17. und 18. Jahrhunderts entspricht. Und es ist ein berechtigter Anspruch, diesem ursprünglichen Aufführungsideal auf die Spur zu kommen. Doch bleibt diese Suche in hohem Maße spekulativ, denn außer dem reinen Notentext, entsprechenden Instrumenten aus dieser Zeit sowie einiger wenig konkreter Zeitzeugenberichten gibt es keinerlei Hinweise auf die „korrekte“ Ausführung einer Bach’schen Komposition. Somit kann jede historisch orientierte Ausdeutung einer barocken Komposition nur immer einen unverbindlichen Versuch darstellen, Authentizität zu generieren.
Wenn der Jazzpianist Keith Jarrett diesen Versuch unternimmt, und die Goldbergvariationen auf einem Cembalo auf CD aufnimmt, dann ist dies nichts wirklich Neues, weder hinsichtlich der Instrumentenwahl noch in Bezug auf seinen interpretatorischen Ansatz, der außer den gängigen Registerwechseln und der vom Basston ausgehenden Brechung der Akkorde nichts Wesentliches zu bieten hat. Hier erfüllt sich dann auch bald ein Klischee der Cembalogegner, die die dauerhafte Beschallung mit der (notwendigerweise) akustisch weitestgehend gleichförmigen Klangsprache gerne mit der Geräuschentwicklung einer Nähmaschine vergleichen. Mag dieser Art der Interpretation zwar historisch korrekter sein als die Darbietung auf einem modernen Konzertflügel, so wirkt letztere aus leicht nachvollziehbaren ästhetischen Gründen viel abwechslungsreicher, bunter, ausdrucksstärker und kurzweiliger, wenn auch Stadtfelds Ansatz von Glenn Gould schon vor über 30 Jahren sehr viel konsequenter und radikaler zu Ende gedacht wurde und seine ständigen Diskantoktavierungen in den Wiederholungsteilen auf die Dauer etwas unmotiviert und somit aufgesetzt wirken.
Aber trifft ein Martin Stadtfeld oder ein Glenn Gould mit seiner Interpretation eher den Geist eines Johann Sebastian Bach als ein archaisierender Keith Jarrett? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Aber muss dies überhaupt der Anspruch sein? Ist es nicht vielmehr Aufgabe eines reproduzierenden Künstlers, den Inhalt einer Komposition mit individuellen Leben zu füllen, mit eigenen schöpferischen Elementen auszudeuten, ihm sozusagen „seinen eigenen Stempel“ aufzudrücken? Dieser hohe künstlerische Anspruch zusammen mit der naturgemäß hohen instrumentellen Unabhängigkeit von Bachs Kompositionen und dem aktuellen musikalisch-ästhetischen Zeitgeist rechtfertigt in jedem Fall eine „moderne“ Deutung von Barockmusik, ohne dass hierdurch künstlerisch überzeugenden Darbietungen aus dem Bereich der historischen Aufführungspraxis automatisch die Anerkennung entzogen werden muss. Die ergänzende schöpferische Kraft des Interpreten gegenüber dem Werk sollte in hohem Maße unabhängig vom Medium des Instrumentes sein.