Ein Wochenende mit Wolfgang Rihm und der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz. In drei Konzerten in Ludwigshafen vom 14.-16. November 2014 portraitierte das Orchester den Komponisten. Neben seiner Musik und Werken seiner Schüler erklangen alle vier Brahms-Sinfonien.
von Christine Blaich & Sebastian Herold
Karl-Heinz Steffens wartet, bis alle ihren Platz gefunden haben. Der Generalmusikdirektor der Staatsphilharmonie bricht nach wenigen Takten wieder ab, nachdem der ruhige, tiefe Beginn des ersten Nähe fern-Stücks durch das Getrappel leicht zu spät hereingelassener Besucher gestört worden war. Ein neuer Ansatz, und nun erklingt der Urkeim des Sinfonieschaffens Johannes Brahms‘ – erdacht von Wolfgang Rihm.
Brahms und Rihm: Diese beiden Komponisten stehen im Mittelpunkt der Konzerte am Freitag und Samstag. Das Konzept der Konzerte: Alle vier Brahms-Sinfonien werden an den beiden Abenden zur Aufführung gebracht; vor jeder Sinfonie erklingt dabei eines der vier Nähe fern-Stücke Rihms. Im Auftrag des Luzerner Sinfonieorchesters schuf der Komponist in den Jahren 2011 und 2012 die vier Stücke, die sich je auf eine der Brahms-Sinfonien beziehen, am Stück hintereinander aufgeführt sich aber wiederum zu einer Sinfonie zusammenfügen. Die einzelnen Stücke sind Reflexionen, Antworten auf die Sinfonien, sie drücken Rihms Vorstellung des Schaffensprozesses Brahms‘ aus.
Der Zuhörer wird in einen imaginierten Ideenstrom geworfen, aus dem einzelne bekannte Motivfetzen der Brahms-Sinfonien zwar kurz wie Treibholz auftauchen, doch gleich wieder von der nächsten Welle erfasst werden und in einem Klangmeer versinken. Das erzeugt Spannung und bereitet gleichzeitig den Weg für die jeweils folgende Brahms-Sinfonie, die dann umso klarer, umso vertrauter wirken kann.
Doch sind Rihms Stücke keinesfalls als neutönend aufgewärmte Remakes der Brahms-Sinfonien zu sehen. Sie sollen kein „Ankommen“, sondern eher ein „Werden“ darstellen. Und so gibt es zwar manche Entsprechungen, wie etwa den schreienden ersten Akkord im dritten Stück, der als eine Art verfremdeter Beginn der dritten Sinfonie aufgefasst werden kann, wie eine starke, sichere Idee. Doch dann ist da der tiefe Beginn des ersten Stücks: suchend, unsicher, brüchig, sich nur langsam und mühsam empor hangelnd. Allmählich setzt sich die Musik zusammen, bis irgendwann Anflüge der reibungsvollen chromatischen Gegenbewegung des Anfangs der Brahms-Sinfonie ertönen.
Zwar wäre Dirigent Karl-Heinz Steffens normalerweise nicht glücklich über die Aufführung des kompletten Sinfonieschaffens eines so großen Komponisten an nur zwei Abenden. Jedoch stellten die Nähe fern-Stücke Rihms einen „Abstandshalter“ dar. Somit haben auch Teile des Publikums, die der Neuen Musik eher fern sind, die Möglichkeit, die Brahms’schen Sinfonien auf eine andere Art und Weise kennenzulernen: erweitert, angereichert durch das „Gedankenexperiment“, die „Ideensammlung“.
Rihms Meisterschaft zeigt sich vor allem in der natürlichen Architektur der Stücke, im fließenden Auf und Ab der wogenden Musikmassen. Er verwebt die Brahms‘schen Motivfetzen so organisch, als wären sie seine eigenen. Im vierten Nähe fern-Stück wird schließlich die Bedeutung des Titels für die Zuhörer noch auf einer weiteren Dimension erfahrbar. Ähnlich wie in Brahms Sinfonie wird das Hauptmotiv auf den Wogen des Klangteppichs bis zum Höhepunkt hochgeschaukelt. Ein feines Goldflimmern der Streicher – und plötzlich zwei gestopfte Trompeten. Während ihres ersten Einsatzes befinden sich diese noch mitten im Orchester. Für ihren zweiten Auftritt innerhalb des Stücks verlassen sie allerdings den Saal und spielen durch die Flügeltüren von hinten in den Konzertsaal hinein. Durch dieses szenische Moment wird die zuvor erreichte akustische Ferne nun räumlich erfahrbar.
Es ist offensichtlich, dass Steffens sich in der Rihm-Partitur hervorragend auskennt. Nur so kann er einen solch ausbalancierten Klang aus seinem Orchester hervorholen: differenziert die Dynamik, deutlich hervorgehoben die führenden Instrumentengruppen. Ruhig und konzentriert dirigiert Steffens, immer in Kontakt zur Partitur – und zu seinen Musikern. Wie ein Fels in der Brandung der Klangmassen steht er auf seinem Dirigentenpult; bei lyrisch-transparenten Passagen tänzelt er beinahe vor seinem Orchester. Großes Lob vom Komponisten gab es bereits am Ende der Generalprobe zum zweiten Konzert am Samstagvormittag. „Das klang ganz fantastisch“ schwärmte er, und schließlich zufrieden lächelnd „Toll! Klasse“.
Auch bei den Brahms-Sinfonien, allesamt auswendig dirigiert, schafft Steffens durch sorgfältig gewählte Tempi und deren fließende Übergänge große Bögen, die das Orchester mit enormer Präzision, Leidenschaft und hörbarer Spielfreude zu Gehör bringt. Hierbei sind die Kontraste zwischen den einzelnen Instrumentengruppen und die Verwendung verschiedener Klangfarben immer klar, sodass die Motive und ihre Entwicklung stets mitverfolgt werden können.
Am Sonntagnachmittag konnte das Publikum in der Ludwigshafener Philharmonie neben den ersten beiden Chiffre-Stücke Rihms und Werken seiner Schüler außerdem Rihm als Lehrer kennenlernen, sowie Einblicke in den Umgang und die Arbeit mit seiner Kompositionsklasse erhalten. Bei dem Gesprächskonzert führte der Karlsruher Kompositionsprofessor humorvoll und verständlich durch das Programm. In lockerer Atmosphäre konnte sich jeder selbst ein Bild vom Lehrer Rihm machen, davon, wie sein Unterricht aussieht und wie seine Studenten seinen didaktischen Ansatz empfinden.
Dazu fragte Rihm Studenten, ob sie nicht für eine Spontanunterhaltung zur Verfügung stünden: „Komm, wir reden zusammen!“ Man hatte fast das Gefühl, einer Unterrichtsstunde beizuwohnen. Er ging vorne auf und ab, erzählte und philosophierte, stellte den Studenten interessierte Fragen auf Augenhöhe, die diese offen und aufgeschlossen beantworteten. So sprachen sie zwischen den Werken auch über ihre eigenen Kompositionen und die ihrer Kommilitonen.
Benjamin Scheuer hatte ein doppeltes Bläserquintett mit Zuspielungen komponiert, das vor allem mit sehr ungewöhnlichen Klangwirkungen operiert. So waren nicht nur Holz- und Blechblasinstrumente auf der Bühne vertreten, sondern auch ein Luftballon, eine leere Glasflasche und weitere ungewöhnliche Utensilien wie Kinderspielzeug. Das sorgte für einige humoröse Effekte, die einige Zuhörer zum Schmunzeln bis zum verhaltenen Lachanfall brachten. Die Geräuschkulisse erinnerte wohl – beispielsweise durch Verfremdungen der menschlichen Stimme in den eingespielten Tracks – zuweilen eher an das Innenleben eines Affengeheges im städtischen Zoo als an ein Sonntagnachmittagskonzert.
Die folgenden Stücke offenbarten die Vielfalt, die in der Kompositionsklasse Rihms herrscht. Kathrin A. Denners Vertical Loop Task präsentiert sich als ein punktuell-kleingliedriges Ensemblekonzert mit sich rasch verflüchtigenden tänzerischen Anklängen. Ralph Bernardys Raivota (das finnische Wort für „wüten“) verlangte besonders dem Kontrabassisten enorme Kondition ab, der angestrengt nach vorne gebeugt ein hohes Hummelflimmern erzeugte.
„Das wäre doch ein schöner Schluss gewesen – nein, jetzt muss der Alte noch was sagen.“ Doch der „Alte“ hat viel zu sagen, vor allem was die Lebenstüchtigkeit seiner Studenten angeht. Sein Unterricht soll dazu ermutigen, selbst den Schritt über den Abgrund zu wagen, den „Weg ins Eigene hinein“ zu gehen. Das sei zwar das schwerste, was jeder Einzelne tun müsse, aber erst dann werde es Kunst: „Wenn ich etwas herausfinde, das es noch nicht gibt.“
