
Zur musikalischen Dramaturgie in Milos Formans Film „Amadeus“
von Alexander Quadt
Durch die Tür hört man den schmerzerfüllten Schrei eines Mannes. Die beiden Bediensteten, die zuvor vergeblich versucht hatten, den verschlossenen Raum zu betreten, blicken sich verängstigt an und versuchen letztmalig, ihren Dienstherren zum Öffnen der Tür zu bewegen. Etwas Schweres scheint auf die Klaviatur zu stürzen. Röcheln, stöhnen. Schließlich brechen die Diener die Tür auf und sehen ihren blutüberströmten Herrn am Boden sitzen. In diesem Moment setzt Musik ein: Unisono-Streicher, dramatische Synkopen in g-Moll, gebrochene Dreiklänge, man sieht den greisen Salieri nach seiner versuchten Selbsttötung in Großaufnahme. In klassischer Weise unterstützt die Musik das Überraschungs- bzw. Schockmoment dieser Szene. Aber was wir hören, ist nicht etwa Max Steiner, John Williams oder Hans Zimmer, sondern Wolfgang Amadeus Mozart. Der Eröffnungssatz seiner frühen g-Moll Symphonie KV 183 scheint wie keine andere Musik perfekt zu diesem ersten Höhepunkt von Milos Formans achtfach Oscar-prämierten Meisterwerk „Amadeus“ zu passen.
Nun scheint es nicht nur naheliegend (wenn nicht gar alternativlos), in einem Film über Mozart auch bzw. nahezu ausnahmslos auf dessen Werke als musikalisch-dramatische Ergänzung zurückzugreifen. Mit welcher Konsequenz, Stimmigkeit, Virtuosität und Vielseitigkeit dies jedoch im 1984 nach dem Theaterstück von Peter Shaffer entstandenen Film geschieht, ist durchaus bemerkenswert und eine genauere Betrachtung wert.
Der Film erzählt rückblickend aus der Sicht des alten Salieri die (in weiten Teilen fiktive) Geschichte von Mozarts Zeit in Wien, wie der junge Komponist das Publikum erobert, den Monarchen begeistert und gleichzeitig die gesicherte Position von Salieri als Hofkomponist in Gefahr zu bringen scheint. In grenzenloser Bewunderung für Mozarts Kunst einerseits versinkt Salieri andererseits immer mehr in Selbstzweifeln, fühlt sich von Gott bestraft, indem dieser ein „obszönes Kind“ als Werkzeug nutzt, um ihm seine eigene Mittelmäßigkeit vor Augen zu führen. Sein perfider Plan, durch den erzwungenen Tod Mozarts nachträglich zu Ruhm zu gelangen, muss schließlich scheitern und verdammt den ehemals berühmten Musiker zu einem langen, qualvollen Restleben gekennzeichnet durch verblassenden Ruhm und aufzehrendes Selbstmitleid.
Zu Beginn des Films erfolgt der Einsatz von Mozarts Musik noch überwiegend intradiegetisch, d.h. als Teil der Handlung sieht und hört man beispielsweise Ausschnitte aus Aufführungen seiner Bläserserenade KV 361 und der „Entführung aus dem Serail“. Mehr und mehr nimmt Mozarts Musik jedoch auch extradiegetischen Charakter an, d.h. die Musik kann keiner Tonquelle auf der visuellen Ebene zugeordnet werden, die Akteure dieser Szenen können diese Musik somit nicht hören. So findet der immerwährende Konflikt Mozarts mit seinem Vater Leopold einen ersten Höhepunkt, als der Sohn (den Wunsch des Vaters nach Rückkehr nach Salzburg ablehnend) stattdessen Constanze Weber heiratet. Das Kyrie aus Mozarts c-Moll Messe KV 427 verbindet eindrücklich die Trauungszeremonie mit der Darstellung des zutiefst enttäuschten Vaters, wie er aus einem Brief die Neuigkeiten aus Wien erfährt. Dass diese Messe tatsächlich auch in einem biographischen Kontext mit Mozarts Heirat mit Constanze steht, verleiht der Szene noch weiteres dramaturgisches Gewicht.
An verschiedenen Stellen des Films sieht man Salieri, wie er voll Bewunderung Mozarts Manuskripte betrachtet und das aus seiner Sicht „Vollkommene“ in dieser Musik aus dem Notenmaterial herausliest. Die beiden vordergründigen Ebenen dieser Szenen (Salieri mit den Notenblättern und die kommentierende Off-Stimme des alten Salieri) werden ergänzt durch Salieris innere Vorstellung der Musik, die dem Zuschauer durch die akustische Darbietung der entsprechenden Werke verdeutlicht wird. (Wie sorgfältig der Film auch im Detail gearbeitet ist, zeigt der Umstand, dass der Inhalt der gezeigten Manuskripte immer auch der in diesem Moment verwendeten Musik entspricht.) Obwohl in diesen Szenen der Einsatz der Musik nicht intradiegetisch erfolgt (es gibt keine sichtbare Klangquelle), kann hier auch nicht ohne weiteres von extradiegetischer Filmmusik gesprochen werden, denn Salieri kann die Musik ja „hören“, wenn auch nur imaginativ. Dem Zuschauer muss jedoch hier – über die visuelle Darstellung des Notenmaterials hinaus – geholfen werden.
Weiterentwickelt wird dieser Ansatz in der berühmten Sequenz gegen Ende des Films, als Salieri den durch Krankheit geschwächten Mozart bei der Komposition des Requiems unterstützt. Am Beispiel des „Confutatis“ wohnt man dem direkten Schöpfungsprozess bei, indem Mozart Salieri nach kurzem Überlegen jeweils die Einzelstimmen des Orchester- und Chorsatzes diktiert und jener sehr bemüht ist, dem Tempo und der ungewohnten Satztechnik Mozarts folgen zu können. Mozarts Beschreibung seiner musikalischen Gedanken werden auch hier quasi extradiegetisch durch die entsprechenden Musikeinblendungen verdeutlicht. Die Akteure „hören“ die Musik in ihrer Vorstellung, für den Zuschauer erfolgt dagegen eine konkrete akustische Darstellung der musikalischen Zusammenhänge. Dies geht soweit, dass – Mozarts Diktat entsprechend – einzelne musikalische Elemente, wie die Harmonietöne, die separaten Singstimmen und schließlich die Streicherbegleitung, nacheinander erklingen. Erst wenn sich Mozart am Ende der Szene Salieris Manuskript mit dem kompletten ersten Teil des „Confutatis“ zeigen lässt, erklingt die Musik erstmals im Zusammenhang und dient nach einem überraschenden Schnitt als rein extradiegetische Begleitung für die Kutschfahrt der heimkehrenden Constanze.
Auch für einen ambidiegetischen Einsatz der Musik gibt es ein anschauliches Beispiel. Etwa in der Mitte des Films wechselt die Funktion des Finalsatzes des Klavierkonzerts KV 482. Zunächst wird zu dieser Musik gezeigt, wie das Ehepaar Mozart in einer Kutsche durch Wien fährt, während Bedienstete dem Künstler das Klavier hinterhertragen. Grund des kleinen Umzugs ist ein Konzert im Park des Kaisers, wo man nach einem nahtlosen musikalischen Schnitt Mozart bei der Darbietung eben jenes Klavierkonzertes beiwohnt.
Die düstere Grundstimmung des d-Moll Klavierkonzerts wiederum dient auf rein extradiegetischer Ebene, um im späteren Verlauf des Films einerseits vordergründig eine kalte Winterstimmung zu vermitteln, andererseits auf dramaturgischer Ebene, um über die gemeinsame Tonart d-Moll die Vorbereitungen für Salieris Plan in einen musikalischen Zusammenhang mit den direkt zuvor gezeigten Szenen aus Don Giovanni zu bringen. In diesem übergeordneten Kontext lässt sich sogar eine Art Leitmotiv des „Filmscores“ ausmachen. Die beiden Eingangsakkorde der Ouvertüre zu Don Giovanni stehen einerseits in direktem Kontext zu Mozarts Vater, dessen Tod Mozart (in der Vorstellung von Salieri) in eben dieser Oper verarbeitet hat. Andererseits hört man diese Akkorde, wenn Salieri als Teil seines Plans in einer Verkleidung, die zuvor mit Leopold Mozart in Verbindung gebracht wurde, mehrfach bei Mozart erscheint, um ihn hinsichtlich der Fertigstellung des Requiems unter Druck zu setzen. Zusätzlich verwendet als unmittelbare Eröffnung des Films, schaffen diese beiden dramatischen Akkorde somit eine gewisse motivische Klammer um die Gesamthandlung.
Einen der wirkungsvollsten musikalisch-visuellen Höhepunkte stellt zweifellos der perfekte Match-Cut gegen Ende des Films dar, als sich Mozart von seiner Schwiegermutter schwere Vorwürfe über den Umgang mit Constanze gefallen lassen muss. Die sich immer weiter in Rage steigernde Frau Weber wird vom zunächst teilnahmslos und frustriert dasitzenden Mozart plötzlich angeblickt, fixiert, ein musikalischer Geistesblitz scheint ihn zu erhellen, im Hintergrund hört man bereits leise eine Sopranarie, und am akustischen Höhepunkt der Schimpftiraden erkennt man die dreigestrichenen Koloraturen der Rachearie der Königin der Nacht, und von der Großaufnahme der Schwiegermutter wird direkt in die entsprechende Szene der Uraufführung der Zauberflöte geschnitten. Auch wenn man anmerken kann, dass diese Szene inhaltlich in ihrem komödiantischen Gestus nur wenig zur eher tragischen Grundstimmung dieses Erzählabschnitts passen mag, ist die filmische Umsetzung dieser grandiosen Idee perfekt gelungen.
Das Ende des Films wird zunächst vom „Lacrimosa“-Teil des Requiems dominiert. Am Morgen nach der gemeinsamen Arbeit von Mozart und Salieri am Requiem trifft Constanze zuhause ein und stellt Salieri zur Rede. An einer Diskussion um die Fortsetzung der Arbeit am Requiem kann sich Mozart nicht mehr beteiligen. Er stirbt im Beisein seiner Frau und Salieris, das Requiem bleibt unvollendet. In diesem Moment ertönt das „Lacrimosa“ einerseits als Trauermusik für den verstorbenen Mozart, andererseits als Zeichen der endgültigen Niederlage Salieris. Als eines der wenigen Stücke des Soundtracks erklingt es in voller Länge und fasst übergreifend die direkte Bestürzung Constanzes und Salieris sowie das Begräbnis Mozarts wirkungsvoll zusammen. Das abschließende Amen wird in seiner Aussage noch verstärkt durch den Schnitt vom offenen Massengrab hin zu den ein Kreuz umschließenden Händen des ergriffenen Pfarrers, der sich in der Zukunft das Bekenntnis des alten Salieri anhört. Abermals wird dem Zuschauer exemplarisch vor Augen geführt, wie Recht der für den Soundtrack verantwortliche Dirigent Sir Neville Marriner hatte mit seiner Feststellung: „One of the good things about Amadeus was that the film was shot around the music – not the other way around as it is usally the case.“
Ursprünglich war von Milos Forman geplant, das „Lacrimosa“ auch für die letzte Szene sowie den Abspann des Films zu nutzen. Letztendlich entschied man sich hierfür jedoch für den langsamen Satz aus Mozarts d-Moll Klavierkonzert. Die Wirkung ist frappant: Die positive, optimistische, versöhnende Klangsprache der Romanze verstärkt die Aussage der Szene aufs extremste. Salieri wird hier in entwürdigender Weise durch die Irrenanstalt zum Toilettengang gefahren und empfiehlt sich abschließend in größtem Eigenzynismus als Schutzpatron der Mittelmäßigen. Das Echo des irre lachenden Mozarts leitet in den Abspann über, der den Zuschauer eine ganze Weile berührt und überwältigt zurücklässt. Geniale Musik, genial inszeniert.