
oder: Wieso wir beim Prügeln Freude empfinden!
von Milena Domogalla
Seit knapp 200 Jahren hören, spielen und lieben Menschen auf der ganzen Welt die Musik von Ludwig van Beethoven. Er ist einer der bekanntesten und einflussreichsten Komponisten klassischer Musik und auch wenn man kein eingefleischter Klassiker ist und noch nie einen Konzertsaal von innen gesehen hat, kann man sich den Klängen Beethovens kaum entziehen. So werden seine Werke in vielen erfolgreichen Filmen als Filmmusik verwendet. In Der Frühstücksclub pfeift John Bender das Anfangsmotiv der 5. Sinfonie, in Club der Toten Dichter erklingt ein Ausschnitt aus der 9. Sinfonie, während Schüler Fußball spielen, die 5. Sinfonie ertönt auch in Die Katze auf dem heißen Blechdach, für Rosemaries Baby wurde „Für Elise“ verwendet, auch Star Trek: Der Aufstand und Stanley Kubricks Uhrwerk Orange wären nicht die selben Filme ohne Beethovens Musik.
Seine 9. Sinfonie ist eines der populärsten klassischen Werke und ein bedeutender Beitrag zur Musikhistorie. Uraufgeführt 1824, ist sie die letzte vollendete Sinfonie Beethovens. Nicht nur die Aufführungsdauer von ungefähr 70 Minuten ist ungewöhnlich lang, sondern setzt er im finalen Satz Gesangssolisten und einen gemischten Chor ein. Radikal. Die berühmte „Ode an die Freude“, textlich basierend auf Schillers Gedicht An die Freude, ist die allererste Sinfoniekantate. Und sie begeisterte nicht nur das bei der Uraufführung anwesende Publikum, sondern wurde 1985 zur offiziellen Europahymne, die die gemeinsamen Werte, wie Freiheit, Frieden und Solidarität und die Einheit Europas in der Vielfalt zum Ausdruck bringen soll. „Freude! Freude!“ und „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“. Nichts Böses kann man denken, wenn man diesem Freudentaumel zuhört, richtig?
Falsch. Der amerikanische Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Stanley Kubrick, düster, triebhaft, intellektuell und exzentrisch, taucht in seinen Werken tief in die abgründigen, dunklen Seiten der Menschen ein. Oft ist es klassische Musik, die Kubrick in seine Soundtracks aufnimmt. Unvergesslich ist ihr Einsatz im epischen Streifen 2001: Odyssee im Weltraum. Eingerahmt vom „Also sprach Zarathustra“ – Motiv von Richard Strauss montiert Kubrick den „Donauwalzer“ von Johann Strauß – beim Tanz des Raumschiffs durch den Weltraum – oder leitmotivisch, bei jedem Erscheinen des Monolithen, das Kyrie aus Györgi Ligetis „Requiem“. In den späteren Filmen Shining und Eyes Wide Shut verwendet Kubrick ebenfalls die Musik von Ligeti.
Filmmusik unterstreicht nicht nur die jeweils aktuelle Gefühlslage der handelnden Personen, sie kann auch ein wiederkehrendes Motiv zur Zusammenbindung verschiedener Szenen sein, noch bevor man den Monolith das erste Mal sieht, wird man erfüllt von den verstörenden Klängen von Ligetis „Requiem“.
So lässt sich behaupten, Filmmusik verstärkt den Eindruck des Geschehens, unterstreicht die Bedeutung der Handlung und bestätigt die Intention des Regisseurs. These: Wird klassische Musik verwendet, birgt dies gleichzeitig die Gefahr und den Vorteil der Konnotation. Mit Ligetis Musik verbinden wir etwas Bedrohliches, Fremdartiges und Neues, da die sphärischen Klänge verwirrend und neuartig klingen. Anders steht es da um wilde Rossini-Ouvertüren und freudvolle Sinfonien, wie etwa Beethovens 9.?
Beides kommt in dem 1971 erschienenen Uhrwerk Orange vor, doch wirkt die Musik hier ganz anders, als man zunächst vermuten würde. Beide Stücke, Rossinis Ouvertüre zu La grazza ladra und die Ode an die Freude, zaubern beim Hören ein Lächeln ins Gesicht. Beide Stücke werden in Uhrwerk Orange jedoch mit Gewalt verknüpft. Namentlich erwähnt und bildlich dargestellt ist er, „der gute alte Ludwig van“. Seine 9. ertönt und „Jesusfiguren“ tanzen mit blutigen Malen an der Hand einen Reigen, man sieht Bilder der Gewalt. Es herrscht also eine gewisse Diskrepanz zwischen Bild und Musik. Doch wie kommt es, dass gerade diese Diskrepanz den Film zu einem Geniestreich macht und uns unangenehmer Weise mit der Hauptfigur sympathisieren lässt?
Uhrwerk Orange handelt von einer Gruppe junger Männer, die eine sehr eigensinnige Jugendsprache verwenden und unter ihrem Anführer Alex – einem leidenschaftlichen Beethovenverehrer – die Nachbarschaft unsicher machen. Die sogenannten „Droogs“ prügeln und stehlen, brechen in Häuser ein, vergewaltigen Frauen und misshandeln Männer. Dabei geht es nicht nur um Beute, sondern um das Zelebrieren der Gewalttaten. Auch untereinander herrscht ein rauer Ton und die Jungs gehen nicht gerade freundlich miteinander um. So kommt es, wie es kommen muss, Alex wird bei einem Raubzug von seinen vermeintlichen Kameraden verraten. Er wird verhaftet und verurteilt, doch das Blatt scheint sich zu wenden, als er in eine Versuchsreihe aufgenommen wird: Wissenschaftler versuchen, durch Konditionierung das Gehirn gewalttätiger Menschen auf Gewaltlosigkeit umzuprogrammieren. Wie die Ergebnisse zeigen, scheint dies zu funktionieren und Alex wird entlassen. Ein Nebeneffekt ist allerdings, dass Alex nun nicht nur bei Gewalt Brechreiz verspürt, sondern auch bei Beethovens 9. Sinfonie, seinem Lieblingsmusikstück, das während der Therapie abgespielt wurde und in seinem Gehirn jetzt mit Gewalt verknüpft ist. Alex‘ frühere Taten holen ihn ein, seine Opfer rächen sich und als Alex in einem Zimmer eingesperrt gezwungen ist, Beethovens 9. Sinfonie zu hören, stürzt er sich im Todeswunsch aus dem Fenster. Der Sturz bringt ihn jedoch nicht um, sondern verletzt ihn nur sehr stark, doch danach kann er wieder ohne Probleme Beethoven hören.
Beethoven ist für Uhrwerk Orange so essentiell, wie die einzigartige Sprache und die weißen Outfits von Alex‘ Droogs. Alex (gespielt von Malcolm McDowell) verbringt seine Tage damit, zu schlafen, wenn er wach ist, hat er Sex, nimmt Drogen und frönt seinen weiteren Leidenschaften: Musik und Gewalt. „Es war ein wunderbarer Abend, und was er noch brauchte, um wahrhaftig großartig zu enden, war ein wenig vom alten Ludwig van.“ Während Alex also eine Kasette mit Beethovens 9. Sinfonie einschiebt und genussvoll anhört, verzerrt sich sein Gesicht vor Freude, denn er hat Visionen. Visionen von Hängungen, Explosionen, Feuer und Blut. „Richtig Horrorshow“, wie er zu sagen pflegt. Im ganzen Film bewegt klassische Musik Alex zur Gewalt: Die brutalen Visionen erscheinen ihm bei Beethoven, als er aus einem geöffneten Fenster Rossinis „La grazza ladra“-Ouvertüre hört, ist diese „liebliche Musik“ für ihn ein Zeichen, und er weiß schlagartig, was zu tun ist: Seine Position in der Gruppe festigen und mittels Gewalt seine Droogs zu Recht weisen. Er schlägt sie zur Musik mit seinem Gehstock und schneidet einem mit einer in besagtem Gehstock verborgenen Klinge den Handrücken auf.
Während wir also heitere Streicherkaskaden hören, sehen wir Gräueltaten. Wir zucken zurück, Alex grinst. Und genau da steckt die Antwort auf die Frage, warum die heitere Musik so gut zu den brutalen Bildern passt. Erst scheint es uns ja irgendwie befremdlich, doch auf den zweiten Blick seltsam passend. Für Alex ist Gewalt etwas Wunderschönes, etwas Positives, dass es zu feiern gilt. In seiner verdrehten Psyche sind Verletzungen wohl das Beste, was man anderen Menschen zufügen kann. Und jeder kennt doch das Gefühl, was entsteht, wenn die Lieblingsmusik im Radio läuft. Lachen, Singen, Tanzen, … oder eben Prügeln. Alex liebt das Leben und dadurch wächst er dem Zuschauer ans Herz. Jemanden, der so erfüllt von Freude ist und das Leben in vollen Zügen zu genießen weiß, den kann ich doch nicht hassen. Er reißt uns mit in seiner Euphorie und auch, wenn uns die Gewalt anekelt, macht es Spaß, Alex beim Ausüben zuzuschauen. So sehen wir den Umstand, dass er nach seiner Therapie gewaltfrei ist zwar natürlich positiv, finden es dennoch tragisch und absolut nicht fair, dass ihm der Spaß an der Musik und somit an seinem ganzen weiteren Leben genommen sein soll. Jemand, der sich bei der einmalig fantastischen Musik Beethovens schmerzvoll windet und sich gar aus dem Fenster schmeißt, verdient unser Mitleid. Und zum Glück endet der Film damit, dass Alex ohne Probleme das große Finale der „Ode an die Freude“ hören kann und sich dabei eine wilde Sexszene vorstellt. Die ultimative Lebensfreude. „Ich war geheilt, all right“. Musik verbindet uns also durch die Leinwand auch mit den miesesten Typen – und „alle Menschen werden Brüder“. Radikal.
Production still photographer: Dmitri Kasterine © Polaris Productions, Hawk Films, Warner Bros., SK Film Archives LLC, the Kubrick family, and University of the Arts London.