
Es ist kalt. Eisig kalt. Ein frostiger Hauch bläst einem mitten ins Gesicht. Der eigene Atem bleibt stehen, während die Finger beim Griff in den Popcorntüte erstarren. Wer The Revenant — Der Rückkehrer sieht, muss sich warm anziehen. Denn 156 Minuten brutaler Kampf ums Überleben erfordern ein dickes Fell.
Von Simeon Holub
Den dicken Fellen sind auch die Trapper um den Protagonisten Hugh Glass (Leonardo DiCaprio) und John Fitzgerald (Tom Hardy) stets auf der Spur. Doch die Pelztierjäger haben Pech, als sie vom halbnomadischen Stamm der Arikaree angegriffen werden und bei der Flucht den Großteil der erbeuteten Felle zurücklassen müssen.
In einer ellenlangen Plansequenz nimmt uns Kameramann Emmanuel Lubezki mit an die Fronten. Schnell wird die Handschrift Lubezkis deutlich — denkt man nur an die langen, kunstvoll fließenden Einstellungen bei Birdman, die ihm 2015 einen Oscar bescherten. Ebenso wie damals, arbeitete der preisgekrönte Bildkünstler auch hier wieder mit Regisseur Alejandro González Iñárritu zusammen. Bei The Revenant etabliert sich die Kamera sogar als eine eigenständige Person, die unter Wasser taucht, neben den anderen auf dem Pferd reitet und auch mal einen Spritzer Blut abbekommt. Keine hektischen Schnitte, kein Entkommen — dafür unmittelbare Konfrontation und desorientierende Kamerabewegungen. Nicht weniger gnadenlos fällt die Bärenattacke aus, bei der Hauptdarsteller DiCaprio wieder einmal sein schauspielerisches Können unter Beweis stellt. Keine Menschenseele in Hörweite — keine Filmmusik. Nur ein Bär und DiCaprio. Furchteinflößendes Knurren und schmerzerfülltes Stöhnen. Schon in der Froschperspektive der Kamera zeigt sich die Überlegenheit des Bären. Alleine die Mimik von Leonardo DiCaprio lässt die Todesangst von Hugh Glass spürbar werden. Dieses unmittelbare filmische Erzählen bleibt im gesamten Film erhalten.
Denn während die anderen Hugh Glass alleine zurücklassen, verbessert sich sein körperlicher Zustand kaum. Kleinste Bewegungen erfordern höchste Anstrengungen. Und dass diese qualvollen Bemühungen so real wirken, liegt daran, dass sie auch in Wirklichkeit das Äußerste abverlangten.
So werden die gesamten Aufnahmen des Filmes über sieben Monate hinweg draußen in der Kälte, zunächst in Kanada, dann in Argentinien gedreht. „Ich war die ganze Zeit unterkühlt, egal, ob ich nun in gefrorenen Flüssen schwimmen, in Tierkadavern schlafen oder was am Set essen musste. Ich esse definitiv nicht allzu häufig rohe Bison-Leber“, so der Vegetarier DiCaprio. Doch die Herausforderung hat sich gelohnt — schließlich hat der Börsenmakler (The Wolf of Wall Street), Traumhacker (Inception) und Liebhaber (Titanic) endlich einen wohlverdienten Oscar erhalten. Seinen Ruf als Charakterdarsteller erlangte er schon früh, in dem er 1993 in Gilbert Grape einen behinderten Jungen spielte. Als Jack ließ der Charmeur in Titanic die Frauenherzen höher schlagen. Zuletzt zeigte er sich bei The Wolf of Wall Street als das kompromisslose Arschloch eines Investmentbankers. Die Vielseitigkeit dieses Schauspielers hätte schon viel früher belohnt werden sollen. Fans äußerten sich schon ironisch, dieses mal würde wahrscheinlich eher der Bär einen Oscar bekommen, als endlich einmal Leo. Doch nicht nur der Hauptdarsteller hat bei diesem Film abgeräumt. Iñárritu erhält als Regisseur genauso wie Kameramann Lubezki die goldene Trophäe. Und das hat auch seine Gründe. Denn Iñárritu zeigt, ebenso wie schon bei seinen Filmen Babel und 21 Gramm, die Härten des Schicksals, die nicht romantisiert werden, sondern einem direkt ins Gesicht schlagen.
Deshalb ist The Revenant auch kein Western im herkömmlichen Anordnung des Plots im frühen 19. Jahrhundert unterscheidet sich der Film von Saloon und Honky Tonk geprägten amerikanischen Idealbildern. The Revenant ist nicht schwarz weiss. Es geht um Verrat in den eigenen Reihen. Gut und Böse lässt sich nicht unterscheiden. Das wird auch daran deutlich, dass Hugh Glass’ Sohn Halbindianer-halbamerikaner ist. Nicht nur daran gewinnt die Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht, an Glaubwürdigkeit. Der Film wurde in chronologischer Reihenfolge gedreht, so dass sich die Schauspieler den dramatischen Bogen ihrer Rolle absolut nachvollziehen können. Es wurde keinerlei künstliches Licht verwendet. Dafür wurde stets zur kurzen Mittagssonne gedreht, was dem gesamten Film seine eigene milchig-dunstige Atmosphäre verleiht. In den Nachtszenen sieht man dagegen knisterndes Lagerfeuer.
Die diskrete Filmmusik unterstützt diese natürliche Stimmung. Sie stellt genau das dar, was Musik im Film sein sollte: ein emotionaler Verstärker, der nur in Verbindung mit dem Bild wirken kann. Auch in dieser Beziehung ordnet sich die Musik im Soundgeflecht elegant unter und lässt die Bilder mit ihren natürlichen Klängen für sich sprechen. Das kann sich der Film aber auch leisten. Denn mit der Arri Alexa 65 werden feinste 6k-Aufnahmen der kanadischen Wildnis inszeniert. Das Panorama erstreckt sich auf der Leinwand, als sei kein Ende in Sicht. Dieses Naturerlebnis lässt sich nicht zu Hause im Stream oder auf DVD nachempfinden. Wer pausenlose Action erwartet ist bei The Revenant definitiv falsch. Denn damit diese Bilder ihre großartige Wirkung entfalten, braucht es Zeit. Und die nimmt sich der Film. Die Eindrücke wollen atmen, nicht nur wenn sie in Weitwinkel-Perspektive daherkommen. Denn mit besagter digitaler Kamera, die aus München stammt, lässt sich nicht nur nur die Verlorenheit in der Natur zeigen. Die Verlorenheit wird auch in den Großaufnahmen deutlich. Mit einer speziellen, sehr offenen 18-mm Linse ist es möglich, dass die Bilder dann wirklich atmen: als Hugh Glass kurz vor dem Erfrieren ist, sieht man diesen Atem. Man spürt ihn. Die Linse beschlägt, während der frostige Hauch einem mitten ins Gesicht bläst. Es ist kalt. Eisig kalt.
THE REVENANT, Leonardo DiCaprio, 2015. TM and Copyright ©20th Century Fox Film