
Kunst als Rückzugsort
von Jeremy Heiß
SWR3 strahlte vor kurzem eine Sendung aus: Trump-freie Zone. Es plätscherte Wasser, Vögel zwitscherten und die Moderatoren seufzten und erfreuten sich, dass „Er“ in diesen wenigen Momenten ruhiger Idylle nicht genannt oder thematisiert wird. Ein netter Gag des Senders. Aber ist nicht jeder Song im Radio eine Trump-freie Zone, ein Rückzug aus dem beunruhigenden politischen Klima? Sicherlich würde damit zahlreichen Songs mit politischen oder gesellschaftskritischen Texten Unrecht getan, so zum Beispiel The Day The Women Took Over des US-amerikanischen Rappers Common; Kunst soll keine alternative Welt schaffen, sondern einen leidenschaftlichen Blick auf die Wirklichkeit selbst werfen. Hier ist Kunst ein Sprachrohr, verstanden als Möglichkeit der politischen Partizipation. Diese Kunst, wie beispielsweise die ukrainische Theater- Produktion Haus der Hunde, die die aktuell herrschenden, repressiven Verhältnisse in der Ukraine in drastischen Bildern auf die Bühne holt, ist kein Rückzugsort – Kunst will in diesem Fall etwas von uns, sie fordert uns zur Reflexion auf. Aber muss sie das? Kann sie nicht einfach „nur“ rein ästhetisch wirken, fernab von Bezügen zur Wirklichkeit? Ja, sie kann. Und sie muss. Wo, wenn nicht in Kunst können wir uns zurückziehen und Zuflucht vor der Realität finden?
Kunst, die nichts von uns will, ist ein solcher Zufluchtsort, ein Refugium, ein sicherer Ort, an den man sich zurückziehen kann, um ungestört zu sein. Aber was ist es eigentlich, wovor wir uns in die Kontemplation der Kunst zurückziehen? Wovor suchen wir Zuflucht? Vor Trump? Vor der Realität? Vor politischen und gesellschaftlichen Missständen? Vor Stress und Alltagstrott? Oder vor uns Selbst? Ob Menschen in der Straßenbahn Musik hören, die Ruhe einer Kunstausstellung genießen, im Film in eine andere Welt abtauchen oder sich durch absolute Musik oder banale Popsongs vor Inhalten flüchten, die Motivation ist in allen Fällen dieselbe: Rückzug vor der Wirklichkeit. Wenn ich Musik höre, flüchte ich vor der Wirklichkeit, vor Inhalten, vor mir selbst und vor anderen. Dieser Rückzugsort bietet mir als Refugee eine Verschnaufpause. Ich entsage der Wirklichkeit in dem Moment, in dem ich mich in den fiktiven Raum der Kunst begebe. Und diese Entsagung ist wichtig. Sie gibt Raum für Entfaltung, Ruhe, Zeit zur Besinnung und Meditation. Indem man Kunst erlebt, um abzuschalten, runterzukommen oder sich zu zerstreuen, gönnt man sich eine Auszeit. Und das ist unbedingt notwendig. Es ist längst empirisch belegt, dass der Mensch Pausen braucht, um aufmerksam und leistungsfähig zu bleiben. Solche Phasen der Regeneration ermöglicht die Kunst. Sich diesem Refugium kontemplativ hinzugeben, ist als würde man einen Kur verschrieben bekommen. Einen Ort fern von der Wirklichkeit, von Problemen und von Trump. Einen Ort, an dem man sagen kann: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.“
©für das Foto: Dakh Theater, Kiew