Ein Beitrag von Fabian Macco.
In der Literatur und in Filmen finden sich zahlreiche Beispiele für Dystopien, dem Gegenentwurf der positiven Utopie. Unter den bekanntesten sind sicher George Orwells Roman 1984 oder Ridley Scotts Film Blade Runner. Besonders interessant wird es jedoch, wenn eine Dystopie interaktiv und aus der eigenen Perspektive erlebt werden kann. Videospiele erlauben es dem Rezipienten, im Gegensatz zum Roman oder Film, aktiv am Geschehen teilzunehmen und die Spielwelt individuell zu erforschen und zu erleben. In meiner nun gut 16 Jahre andauernden Laufbahn als Konsolenspieler sind mir zum Thema Dystopie besonders zwei Spiele im Gedächtnis geblieben, die mich auf ihre jeweils ganz eigene Art bis heute faszinieren: Deus Ex – Mankind Divided (2016) und Bioshock (2007).
Von der Technologie, die die Menschheit spaltet
Deus Ex – Mankind Divided ist der aktuellste Teil der Deus-Ex-Reihe, die ihren Anfang im Jahr 2000 nahm. Die Reihe zählt zum Genre des Cyberpunks, einer Unterkategorie der Science-Fiction mit einer eher pessimistischen Grundstimmung, zu dem auch Filme wie Blade Runner oder der Anime Ghost in the Shell gehören. Als Schauplatz dienen im Cyberpunk-Genre meist dicht bevölkerte Stadtgebiete.
Die Spiele-Reihe Deus Ex setzt sich intensiv mit dem Thema Transhumanismus und den daraus entstehenden Konflikten in der Gesellschaft auseinander. Transhumanismus meint die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch technologische Maßnahmen. Bereits heute gibt es einfache Formen dieser Erweiterungen. Ein Beispiel sind Mikrochips mit NFC-Technologie (Near Field Communication), die unter die Haut implantiert werden, um damit Türen zu öffnen oder Daten zu speichern. Bisher gibt es jedoch nur eine geringe Anzahl an Personen mit derartigen Erweiterungen.
In der Welt von Deus Ex hingegen sind die sogenannten en zum Massenphänomen geworden. Die Eingriffe in den menschlichen Körper und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, sind hierbei weitaus drastischer. Beinahe jeder Körperteil lässt sich durch verbesserte technische Versionen ersetzen, die dem Träger übermenschliche Fähigkeiten verleihen. So gibt es unter anderem eine Erweiterung der Augen, die es erlaubt, verschiedene AR-Anwendungen (Augmented Reality) ohne weitere Hilfsmittel zu nutzen und damit beispielsweise die Umgebung zu scannen, Personen zu markieren sowie deren Bewegungen zu analysieren. Die AR-Technologie wird in vereinfachter Form übrigens auch in Apps wie Pokémon Go verwendet, bei der man durch die Kamera des Smartphones schaut, um mit den in die Realwelt projizierten Pokémon zu interagieren.
Der spielbare Protagonist von Deus Ex ist der Agent Adam Jensen, dessen Körper zu einem großen Teil aus hochentwickelter Technologie besteht. Schauplatz der Handlung des vierten Teils ist das futuristische Prag im Jahr 2029, dem Zentrum des Transhumanismus. Seit einem Zwischenfall zwei Jahre zuvor, bei dem alle Personen mit Augmentierungen durch die Fremdkontrolle einer Geheimorganisation Amok gelaufen sind, ist die Gesellschaft tief gespalten in augmentierte und nicht-augmentierte Menschen. Im Spiel werden die beiden Lager als „Augs“ und „Naturals“ bezeichnet. Aus Angst, ein solches Massaker könnte sich wiederholen, werden die Augs an den Rand der Gesellschaft gedrängt und von der Polizei überwacht. Die Angst und die Zweiklassengesellschaft haben zur Bildung extremistischer Zellen auf beiden Seiten geführt. Der Alltag der Menschen ist geprägt von Gewalt, Überwachung und Misstrauen.
Der Spieler durchquert als Adam Jensen das virtuelle Prag der Zukunft und erledigt dabei verschiedenste Aufgaben. Das Besondere dabei ist die große Entscheidungsfreiheit, die man beim Spielen genießt, die einen aber auch immer wieder mit moralisch schwierigen Situationen konfrontiert. Was mich an diesem Spiel jedoch am meisten fasziniert, ist die Art, wie intensiv und greifbar das Gefühl der Ausgrenzung und Unterdrückung vermittelt wird. Während man in der Ego-Perspektive durch Prag läuft, sieht man an allen Straßenecken schwer bewaffnete Polizisten, die einen argwöhnisch mustern. Man hört im Vorbeigehen abfällige Kommentare über einen, sieht andere Augs, die zusammengeschlagen am Boden liegen und erlebt mit, wie Augementierte in Ghettos abtransportiert werden. Ich spüre ein Gefühl von Wut in mir aufsteigen, das mich nachdenklich stimmt. Mir fällt auf, dass es einige Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft gibt. Ich denke an den immer stärker werdenden Rechtspopulismus, der (nicht nur in Deutschland) die Angst in der Bevölkerung befeuert und den Menschen ihre Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber allem Fremden raubt. Angst ist ein starkes Gefühl und wird gerne als Mittel der Macht missbraucht, doch Angst ist keine gute Grundlage für vernünftige Entscheidungen. Ich denke, dass es genau dieser Bezug zu unserer Realität ist, warum mir Deus Ex so lange Zeit im Gedächtnis geblieben ist.
Vom Egoismus unter dem Meer
Eine ganz andere, aber nicht weniger spannende Form der Dystopie findet sich im 2007 veröffentlichen Spiel Bioshock, das den ersten Teil einer Trilogie bildet. Bei der Zuordnung des Spiels zu einem Genre finden sich verschiedene Meinungen, die meist um die vom Cyberpunk abgeleiteten Begriffe Steampunk, Dieselpunk und Biopunk kreisen. Um mehr Klarheit in die Sache zu bringen, hier eine Übersicht:
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Steampunk |
Verbindung von Technologie aus viktorianischer Zeit (dampf- und zahnradgetriebene Mechanik) und Moderne/ Zukunft |
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Dieselpunk |
Ähnlich wie Steampunk, mit Bezug zu diesel-basierter Technologie bis 1950 |
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Biopunk |
Biotechnologie im Vordergrund, Manipulation der menschlichen DNA |
Im Gegensatz zu Deus Ex spielt die Handlung von Bioshock nicht in der Zukunft, sondern in einer alternativen Vergangenheit im Jahr 1960. Schauplatz ist die im Art-Déco-Stil gestaltete Unterwasserstadt „Rapture“ inmitten des Atlantiks. Ihr Erbauer, Andrew Ryan, hatte die Vision einer geheimen Stadt, in der sich – frei von religiösen und politischen Einflüssen – eine perfekte Gesellschaft bilden konnte. Einige der klügsten und kreativsten Köpfe aller möglichen Disziplinen wurden dafür ab 1946 in die Stadt eingeladen, um Ryans Utopie zu verwirklichen.
Betritt man als Spieler die Stadt zum ersten Mal, stellt man relativ schnell fest, dass Andrew Ryans Vorhaben folgenschwer gescheitert ist. Statt einer harmonisch funktionierenden Gesellschaft erwarten einen zahlreiche Individuen, die dem Wahnsinn verfallen sind und den Spieler bei Kontakt angreifen. Es stellt sich natürlich sofort die Frage, wie es soweit kommen konnte. Die Hauptursache für das Verhalten der Bewohner ist eine Substanz namens ADAM, die in Rapture entwickelt wurde, um die menschlichen Fähigkeiten zu erweitern.
Im Gegensatz zum Transhumanismus in Deus Ex, geschieht die „Verbesserung“ des Menschen in Bioshock nicht durch den Austausch von Körperteilen durch technologisch höherentwickelte Varianten, sondern in Folge genetischer Veränderungen durch die Injektion von ADAM. Die Substanz verleiht dem Konsumenten zwar vielfältige übermenschliche Kräfte, hat jedoch den Nachteil, gesunde Zellen im Körper zu töten und sie durch instabile Zellen zu ersetzen. Sie macht außerdem süchtig und der übermäßige Konsum führt nach einer gewissen Zeit zu wahnhaftem Verhalten und zum Verlust der Menschlichkeit.
Der Erzfeind von Andrew Ryan, Frank Fontaine, der sich illegal nach Rapture eingeschlichen hat, gründet dort einen Schmugglerring und will die Macht an sich reißen. Er sieht im ADAM eine Gelegenheit, Geld zu verdienen und gründet „Fontaine Futuristics“. Um Ryan zu stürzen stellt er nach und nach eine Privatarmee auf und stattet sie mit übermenschlichen Fähigkeiten aus. In der Nacht von Neujahr 1959 eskaliert der Streit und es kommt zum Bürgerkrieg. Einige Zeit nach diesen Ereignissen steigt der Spieler ins Geschehen ein und versucht sich in einem Überlebenskampf einen Weg durch die verfallende Stadt zu bahnen.
Ich könnte nun Stunden damit verbringen, Dinge aufzuzählen, die mich an Bioshock faszinieren. Zu den wichtigsten gehören wohl die komplexe und vielschichtige Story, in der verschiedenste gesellschaftliche, philosophische und psychologische Themen behandelt werden. Hinzu kommt die Gestaltung der Spielwelt, die durch ihren Reichtum an visuellen, klanglichen und spielerischen Details atmosphärischer kaum sein könnte.
Eine Frage, die sich mir auch noch lange nach dem Spielen stellt, ist, weshalb Andrew Ryans Traum von Rapture letztendlich gescheitert ist. Natürlich spielt hierbei wie bereits erwähnt das ADAM eine bedeutende Rolle, doch kann dieses nicht als alleinige Ursache angesehen werden. Um sich der Beantwortung der Frage weiter anzunähern, lohnt sich ein Blick auf die Theorien der russisch-amerikanischen Autorin Ayn Rand, welche auch Bioshock inspirierten – bereits der Name Andrew Ryan deutet diese Verbindung an. Ihre Theorie, die als Objektivismus bezeichnet wird, kann als Art Anleitung gesehen werden, glücklich auf dieser Welt zu leben. Ins Zentrum stellt Rand dabei die objektive, vernunftgesteuerte Betrachtung der Dinge wie sie sind. Ein weiterer Punkt ist die Förderung des Egoismus in einem positiven Sinne. Damit ist gemeint, dass jeder Mensch sein Potential ausnutzen sollte, ohne dabei anderen zu schaden, um so eine friedliche Koexistenz zu gewährleisten. Altruismus wird dagegen als schädlich angesehen.
Von dieser auf das Individuum ausgerichteten Philosophie ist auch Andrew Ryan überzeugt. Relativ zu Beginn des Spiels sagt er über Rapture: „A city where the artist would not fear the censor. Where the scientist would not be pound by petty morality. Where the great would not be constrained by the small. And with the sweat of your brow, Rapture can become your city as well.“ An Personen mit großem Selbstinteresse, die ihre Ziele verfolgen und ihr Potential verwirklichen mangelt es in Rapture sicher nicht, das Problem ist jedoch, dass dies häufig mit der Ausnutzung anderer Menschen verbunden ist, was Ayn Rands Ansatz widerspricht. Das beste Beispiel hierfür ist wohl Frank Fontaine, der u. a. mit der Sucht der Bewohner nach der Droge ADAM sein Vermögen verdient.
Auch hier sind viele Parallelen zu unserer Gegenwart zu erkennen, wie das egoistische Verhalten der Menschen auf Kosten anderer. Bioshock zeigt, die Verderbtheit der Menschen findet ihren Weg auch an die abgeschiedensten Orte der Welt. Eine Utopie, wie sie sich auch Andrew Ryan erträumte wird wohl niemals existieren. Wir können den dystopischen Szenarien, wie sie in Deux Ex oder Bioshock gezeigt werden jedoch auch Positives abgewinnen, indem wir sie als Warnung betrachten und dafür sorgen, dass sie nicht zur Realität werden.
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