Musiktheorie und Popmusik – Nur gute Bekannte?

Forscher

Ein Beitrag von Caterina Szigeth.


Drei Dozenten der Musiktheorie, fünf Fragen über Popmusik. Johannes Kohlmann, Jens Uhlenhoff und Dres Schiltknecht haben sich darauf eingelassen, sich mit zwei Bereichen der Musik auseinanderzusetzen, deren Berührungspunkte rar sind. Das geschah auf wissenschaftlichem Weg sowie aus spannenden persönlichen Ansichten heraus.

Was ist Musiktheorie und was will sie erreichen?

Kohlmann: Musiktheorie versucht erstens, ästhetischen Sinn und innermusikalische Funktionalitäten in Musikstücken aufzudecken („forschende“ Musiktheorie) und ist zweitens eine praktische Hilfsdisziplin für Musiker (Improvisationshilfe, besseres Erfassen, Vorstellen und Auswendiglernen von Musik, Hilfe beim Sprechen über Musik).

Uhlenhoff: Allgemein kann man sagen, dass es im Lauf der Geschichte eine Verlagerung weg vom normativen Denken über Theorie im Sinne einer Kompositionslehre hin zu einem rein deskriptiven Ansatz gegeben hat. Darüber, in welche Richtung so ein Ansatz gehen soll, ist man sich allerdings oft nicht einig. Manche versuchen, zu rekonstruieren, wie Komponisten mit den in ihrer Zeit verfügbaren musikalischen Mitteln umgegangen sind – in dem Bewusstsein, dass wir natürlich nie mit Sicherheit sagen können, wie diese tatsächlich gedacht haben. Andere versuchen eher, systematisch zu beschreiben, wie Musik „funktioniert“ – Dinge zu finden, die ein Komponist nicht bewusst hineingearbeitet hat, die aber im Hintergrund ein Werk zusammenhalten.

Schiltknecht: Ich bin über das Nachspielen und Improvisieren zur Musik gekommen, und die Musiktheorie hat hierbei eine zentrale Rolle gespielt, auch wenn ich das erst viel später gemerkt habe. Die Neugier, das Interesse und die Faszination an »klingenden Klaviertasten« hat mich geprägt, lange bevor ich Noten zu lesen angefangen habe. Musik- Hören/Machen/Denken war stets untrennbar an das hörende Erforschen der Möglichkeiten der Töne gebunden. Dieser primäre Zugang zur Musik über das Hören und nicht das Sehen hat auf natürliche Weise die Musiktheorie ins Spiel gebracht: Zu wissen, wie es gemacht ist, warum es so klingt, beziehungsweise zu wissen, wie ich selber etwas gemacht habe, damit es so klingt wie es klingt. Dieses verstandesmäßige Aufklären im Nachhinein, die Musiktheorie, ebnet den Weg für den jeweils nächsten unbewussten (Fort-)Schritt auf meinem eigenen musikalischen Weg. So gesehen kann eine Musik-Theorie nichts »erreichen wollen«, denn sie ist mit dem Wesen der Musik untrennbar verflochten. Oder würde jemand danach fragen, was Musikpraxis erreichen will?

Was kann musiktheoretische Analyse in Stücken aufdecken, was nicht?                         

Kohlmann: Was eine Analyse aufdecken kann, hängt natürlich stark von der Art und der Fragestellung der Analyse ab. Keine Analyse kann „das Musikstück“ als Solches und in Gänze erklären. Man kann aber stets zu einem „tieferen“ Verständnis der Musik gelangen.

Schiltknecht: Damit ist zugleich gesagt, was Theorie/Analyse nicht leisten kann, nämlich die musikalische Erfahrung selbst. Was immer eine musiktheoretische Analyse mir zeigen mag, ist erst dann musikalisch relevant, wenn es meinen musikalischen Sinn schärft, wenn daraus eine neue Qualität sinnlicher Erfahrung entsteht. Auf dieses intensive Wechselspiel muss ich mich immer wieder bewusst einlassen, da ansonsten die Theorie sich von der Musik trennt.

Uhlenhoff: Sicher ist nur, dass man vermutlich niemals die ganze Antwort findet – es wird immer einen Teilaspekt eines Werkes geben, der sich der Analyse entzieht. Oftmals ist es genau dieses Element, das dafür sorgt, dass wir ein Werk als Kunst wahrnehmen.

Was ist Popmusik?

Kohlmann: Der Begriff „Popmusik“ beinhaltet mehrere Definitions-Ebenen: Popmusik ist erstens ein Synonym für „populäre Musik“ (eine Art kommerzialisierte Musikgattung für eine möglichst breite Masse), zweitens eine bestimmte Stilistik, die sich von anderen Band-Stilen abgrenzt (Rock, Folk, Metal, Hiphop…).

Uhlenhoff: Auch spricht man oft von Popmusik als „Groovemusik“. Das ist in meinen Augen als Abgrenzung zur Klassik auch eine treffende Formulierung – die sich tatsächlich auch auf Balladen etc. erstreckt, da allgemein unter dem Phänomen „Rhythmus“ ganz andere Aspekte eine Rolle spielen. Auch harmonisch gesehen funktioniert Popmusik oft anders, hier spielen zum Beispiel häufig Loops eine Rolle, die sich nicht unbedingt mit der von Satzmodellen in einem klassischen Werk vergleichen lässt, auch wenn dieser Gedanke vielleicht nahe liegt.

Schiltknecht: Die Musik, mit der ich groß geworden bin, und die ich auch heute höre, weil ich in ihr das Gefühl einer unsterblichen, verantwortungslosen, bedingungslosen, coolen und unendlich attraktiven Jugend zu verspüren glaube. Ich gehöre zu jener Generation klassischer Musiker, die mit Popmusik groß geworden ist, was aber nicht heißt, dass ich beides miteinander verbinden will. Ich kann hervorragend damit leben, beides sehr genau auseinanderzuhalten und mich beidem leidenschaftlich hinzugeben, weil mich beides auf sehr unterschiedliche Weise berührt.

Soll/kann man Popmusik »analysieren«? – Wenn ja, wie?

Uhlenhoff: Ich denke: ja, man soll. Allerdings lässt sich nicht verallgemeinern, wie die Fragestellung aussehen kann. Ich habe bereits die Diskrepanz der amerikanischen zur deutschen Musiktheorie erwähnt: Dort gibt es deutlich mehr Theoretiker, die ihre Analysemethoden gleichermaßen auf Klassik, Pop und Jazz anwenden. Da sieht man, dass es

gut sein kann, die Berührungsängste zu verlieren, aber auch, dass es oft wenig Aussagekraft hat, einfach die Analysemethoden eins zu eins zu übertragen. Einen typischen Four-Chord- Song unter der Brille der harmonischen Analyse zu betrachten, sorgt dafür, dass dieser sofort als banal abgetan wird, obwohl es vielleicht andere Aspekte daran gibt, die einen zweiten Blick wert wären.

Schiltknecht: Die Analyse und Theorie der Popmusik interessieren mich brennend, aber nicht als Theoretiker, sondern als Musikliebhaber. Ich begegne ihr nicht als Experte, sondern sozusagen in zivil; eine Art Schutzmechanismus, wenn man bedenkt, dass jegliche Theorie – in ihrem Bestreben, die Musik in ihre Einzelteile zu zerlegen – diese auch immer ein bisschen zerstört. Auch wenn ich selber es nicht kann und nicht will, bin ich der Überzeugung, dass Popmusik unbedingt analysiert werden soll und muss.

Kohlmann: Popmusik kann selbstverständlich analysiert werden. Teilweise decken sich die Fragestellungen mit Analysen aus dem Bereich „Ernste Musik“; – es dürften sich bei der Beschäftigung mit Popmusik aber auch eigene Fragestellungen ergeben. Interessante Analysegegenstände könnten z.B. folgende Ideen sein: Analyse des Sounddesigns (Klangraum, Klangebenen…), Verhältnis von typisierten Beats zum individuellen rhythmischen Geschehen, Strategien des Beginnens und Endens, Verbindung des gehörten Klangerlebnisses (Charakter der Musik) zu den einzelnen „Parametern“ (Harmonik, Rhythmus, Linien (Bass, Gesang))…

Was passiert, wenn man musiktheoretische Analyse auf Popmusik anwendet? – Lohnt sich das?

Kohlmann: Es genügt nicht, standartisierte Analyseverfahren (Schenker, Funktionssymbole…), die für eine andere Musik entwickelt wurden, unreflektiert auf Popmusik anzuwenden. Erfahrungen mit Analyseerfahrungen können aber natürlich trotzdem helfen. Man muss aber, wie bei jeder Analyse, an der Musik ansetzen: Man muss sich in der Musik auskennen – die „Sprache“ der Popmusik gut beherrschen und sich trotzdem auf die individuellen Charaktere des jeweiligen Musikstückes einlassen, um zu sinnvollen Analyseergebnissen zu kommen.

Schiltknecht: Der Aspekt des Designs von Klang scheint mir von großer Wichtigkeit. Es könnte sich daraus eine ganz neue Perspektive der »Klanglehre« erschließen, die zukunftweisend für unser zeitgemäßes Verständnis von Musik sein kann. Dass dies auch der klassischen Musik Möglichkeiten und Wege aufzeigen könnte, ist alles andere als unwahrscheinlich.

Uhlenhoff: Ergiebig ist es in jedem Fall, sich damit zu beschäftigen. In Graz habe ich einen Vortrag über die Bedeutung des „Pre-Chorus“ und des „Post-Chorus“ in der Popmusik der letzten zehn Jahre gehört. Als dort über Stücke gesprochen wurde, die diese beiden Formteile aufweisen, ohne dass dazwischen ein eigentlicher Chorus auftritt, begann auf einmal eine große Diskussion über die Funktion musikalischer Form, über die Trennung von

Form und Formfunktion und darüber, welche Rolle eine angelernte Hörhaltung dabei spielt. Lauter Fragen, die sich auch bei der Analyse einer Mozart-Sonate ergeben. In solchen Momenten ist der Graben zwischen der Analyse von Klassik und Popmusik auf einmal gar nicht mehr so groß.


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