
Das Kino war dem Film als Wahrnehmungsform eingeschrieben und der Film einmal der sichtbare Ausdruck des Kinos, das ihn für uns sichtbar machte und darin eine uns unbekannte Welt. Der Film strukturierte gesellschaftliche Erfahrung durch das Kino. Die Gebrauchsform des Films, wo und wie er gezeigt wird, die spezifische kulturelle Praxis von Film bestimmen die Weise, wie er gesehen wird.
(Lars Henrik Gass, Film und Kunst nach dem Kino, S. 9)
Mit jährlich mehr als 1.100 Akkreditierten aus über 50 Ländern sind die Internationalen Kurzfilmtage weltweit eine der größten Plattformen für ein internationales Branchentreffen von Filmemachern, Studierenden, Interessierten. Oberhausen ist in diesem Jahr zum fünfundsechzigsten mal DAS Zentrum der Kurzfilm-Szene. Mit dieser langen Tradition, als in der Tat eines der ältesten Filmfestivals der Welt, kann man mit Recht behaupten, dass Oberhausen jedes Jahr im Zentrum des cinesatischen Diskurses abseits des filmischen Mainstreams steht.
In den unterschiedlichen Wettbewerbssektionen, sowie Retrospektiven oder thematisch kuratierten Screenings werden Blöcke von mehreren Kurzfilmen zusammengestellt, die mit einer kurzen Moderation oder dem Vorstellen der RegisseurInnen eingeleitet werden. Anders als bei dem gewöhnlichen Kinoerlebnis lässt man sich also nicht nur auf einen Film ein, sondern wird durch ein kurzes Erhellen des Kinosaals und eine knappe Ansprache immer wieder aus der „unbekannten“ Welt des Films herausgezogen und nach einer kurzen Überleitung in eine neue Welt entführt. Besonders in den Wettbewerben werden dabei sehr unterschiedliche Themen, Stile und Genres des Kurzfilms in einem Screening nebeneinander gestellt, bei der sicherlich nicht jeder Film in aller Heterogenität den eigenen Geschmack treffen kann. Das ist aber auch gar nicht schlimm. Denn der nächste potentielle Favorit ist, in unserem Fall, nie länger als 37 Minuten entfernt. Das weckt die Neugier und macht das besondere Oberhausen-Flair aus.
Wie man die Kurzfilme in Oberhausen wahrnimmt, ist die eine Sache – welche Filme man dort präsentiert bekommt, die andere. Denn anders als bei vielen Filmfestivals, die Langfilme programmieren, sind die Kurzfilmtage kein Vorgeschmack, auf das, was bald in den Kinos laufen wird. Die meisten Kurzfilm sind nicht im Verleih und können auch im Internet nicht gestreamt werden. Man bekommt besonders in den Wettbewerben künstlerische Positionen aus aller Welt, die man sonst nie rezipieren würde. Ob der persönliche Einblick in eine japanische Familie, ein humoristischer Dokumentarfilm über Minigolf oder experimentelle Bildkollagen aus „found footage“ – langsam, ehrlich, künstlerisch, politisch, abstrakt, konstruiert oder animiert. In welchem Format, auf welchem Produktionsniveau, in welchem Umfeld und in welcher Länge hier erzählt wird, könnte nicht unterschiedlicher sein und spielt auch letztlich keine Rolle. Dabei ist es ganz normal, dass jeder etwas anderes in die Bilder hineininterpretiert und die künstlerische Intention dabei nicht immer nachvollziehbar ist. So kann es natürlich auch passieren, dass man fassungslos, oder mit dem Schlaf kämpfend in seinem Kinosessel sitzt und sich das Gefühl einstellt etwas „durchstehen“ zu müssen. Doch all das gehört dazu!
An einem einzigen Tag so viele Filme zu sehen, sich immer wieder neu auf die gezeigte Welt einzustellen, fordert und strengt an. Es ist ein kleiner Marathon, dem man sich aussetzt, bei dem sicherlich auch viele Kurzfilme in Vergessenheit geraten werden, manchmal sogar schon am gleichen Tag. Aber bestimmte Eindrücke, Bilder oder Gefühle bleiben hängen, ob durch persönliche Identifikation mit dem Film oder einfach weil man etwas bestimmtes so noch nie gesehen hat. Oberhausen ist ein Gesamterlebnis: die herzlich unbeeindruckte Stadt, die Besucher des Festivals, das Kinoerlebnis im Lichtburg-Filmpalast, die Auswahl des Programms, die Gespräche vor dem Kino und auf den Partys am Abend, all das fügt sich für ein paar Tage im Jahr nun seit schon 65 Jahren zu etwas Einzigartigem zusammen. Kurz: ein „großes“ Festival für das „kleine“ Format.










ein Beitrag von Julia Fischer mit Fotografien von Fabian Macco und der Autorin.