Elend im Film – Armutsporno oder Aufklärung?

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Bildquelle: Alamode (Central) Filmverleih

Ein Beitrag von Julia Fischer.


In den Programmkinos Deutschlands ist ein bestimmtes Genre schon lange nicht mehr wegzudenken: Das Sozialdrama, genauer der politische Film über Missstände in fremden Kulturen. Zahlreiche Filmpreise, von den Oscars bis zu erlesenen Kritiker- und Festivalpreisen, zeichnen diese Filme aus. Es steht nicht mehr der Film in seiner Gestaltung im Fokus sondern die Aussage, die er darüberhinaus transportiert.

Der Wahrheit verpflichtet

Man sitzt im Kino und lässt sich für gut 90-120 Minuten in eine fremde Welt hineinziehen, man empört sich über die schrecklichen Zustände in anderen Ländern und Kulturen, nimmt das Fremde wahr. Ohnehin sitzen in diesen Filmen meist die Menschen, die über die gezeigten Verhältnisse aus Zeitungen oder Nachrichten schon Bescheid wissen. Es geht um soziale Ungerechtigkeit, Armut, Diskriminierung von Minderheiten, Fundamentalismus, Völkermorde und Genitalverstümmelungen. Man wird in diese völlig andere Welt gezogen und verspürt regelrecht das Gefühl etwas „aushalten zu müssen“. Man sitzt in seinem warmen Kinosessel, genießt überteuerte Kinosnacks und schaut hungernden Kindern auf der Leinwand zu. Im Kinosaal herrscht eine bedrückte Stimmung. Die Zuschauer sind ergriffen vom Leid der Protagonisten, geschockt über deren Schicksale und immer wieder stellt sich der Gedanke ein: Mein Gott bin ich froh hier in einer so sicheren und freien Gesellschaft leben zu dürfen! Man wird schnell verleitet zu verurteilen, eine klare Haltung zu beziehen. Wer verteidigt schon machtbesessene Politiker, Fundamentalisten, Folterer, Rassisten oder Gewalttätige?

Es ist schwierig diese Filme objektiv zu bewerten. Oft verschwindet die filmische Kunst hinter dem Gewicht des Themas und dem politischen Gehalt. Es wirkt fast selbstgefällig einen Film in unserer Welt zu loben oder auszuzeichnen, um die angemessene Anteilnahme daran zu zeigen – sozusagen eine bequeme Angelegenheit. Mit der Auszeichnung schaut man nicht weg, beschäftigt sich mit dem Thema, das der Film aufbereitet, aber darüber hinaus bleibt eine anhaltende Anteilnahme oder Engagement aus. Ich kann mir die Tränen nach dem Kinobesuch wegwischen und spätestens am nächsten Tag sind dann auch die bedrückenden Schuldgefühle weg. Ich kann unbeschwert wieder meinem freien und sicheren Leben nachgehen.

Capernaum – Stadt der Hoffnung

Capernaum (2018) ist ein Sozialdrama aus dem Libanon von Nadine Labaki. Ein Film, der bei seiner Weltpremiere in Cannes 15-minütige Standing Ovations auslöste und beide Jury Preise für den besten Film erhielt. Er erzählt von dem Leben des zwölfjährigen libanesischen Jungen „Zain“, der in einer Großfamilie in einem Armenviertel von Beirut aufwächst. Den Rahmen des Films bildet eine Gerichtsverhandlung, in der Zain seine Eltern verklagt, weil diese ihn geboren haben. Zain erklärt dem Richter wie er zu dieser besonderen Anklage kommt und in chronologischen Rückblenden zeigt der Film sein vorheriges Leben. Zain ist das älteste Kind seiner Eltern, doch weder er noch seine zahlreichen Geschwister haben die Möglichkeit zur Schule zu gehen, in geregelten Verhältnissen aufzuwachsen, geschweige denn überhaupt eine Geburtsurkunde und damit eine offizielle Identität zu besitzen.

Die Eltern schicken ihre älteren Kinder zur Arbeit, das jüngste Geschwisterchen wird mit einer Eisenkette an der Heizung festgemacht, um nicht mehr auf es aufpassen zu müssen und seine geliebte jüngere Schwester „Sahar“ wird mit nur elf Jahren an den Vermieter der Wohnung verkauft und zur Heirat gezwungen. Diesen Verlust verkraftet Zain nicht mehr und entschließt sich, von zuhause wegzulaufen. Auf seiner Flucht findet er bei der äthiopischen Putzfrau „Rahil“ Halt, die ihr einjähriges Baby „Yonas“ versteckt hält, damit es ihr nicht weggenommen wird. Zain kümmert sich fortan um das Baby, auch als die Mutter als illegaler Flüchtling festgenommen wird, ohne Zain darüber benachrichtigen zu können. Er versucht durch den Verkauf von Drogen zu etwas Geld zu kommen und will durch einen Schleuser nach Schweden gelangen. Als er sich wieder nachhause schleicht, um seine erforderliche Geburtsurkunde zu suchen, wird er von den Eltern erwischt und findet heraus, dass seine Schwester Sahar an einer zu frühen Schwangerschaft gestorben ist. Zain stürmt mit einem Messer los, um Sahars Mann zu erstechen.

Zain steht also mit 12 Jahren schon das zweite Mal vor Gericht: zuerst als Angeklagter, da er einen Mann mit einem Messer angegriffen hat, dann als Kläger, denn er will seine Eltern verklagen, weil sie ihn ohne Chancen und Fürsorge in diese Welt geboren haben. Doch er geht sogar noch etwas weiter: er will vor Gericht verhindern, dass seine Eltern noch ein Kind bekommen dürfen.

Diese tragische Geschichte ist im Kino kaum zu ertragen, spätestens als sogar die Kleinfamilie durch Yonas, Rahil und Zain auseinander bricht, weil sie festgenommen wird und abgeschoben werden soll, hält man es kaum aus, dem Schicksal von Zain weiter zu folgen.

Das Leben am Existenzminimum und der tiefe Einblick in die Slums von Beirut: Nadine Labaki hat sich mit Capernaum keiner leichten Aufgabe gestellt, denn tragische Geschichten in solch einem Milieu wirken oft, wie eine herabschauende Zurschaustellung des Armen und Elenden um Emotionalität und Mitleid zu erzeugen – in vielen Rezensionen wird sogar von „Armutsporno“ geredet.

Dabei bewegt sich der Film in verschiedenen Genres. Die Rahmenhandlung der Gerichtsverhandlung wirkt wie ein konstruiertes Gleichnis, das durch eine dokumentierte Wirklichkeit, die das Leben der Kinder in Beiruts Armenvierteln zeigt, unterstützt wird. Natürlich ist Capernaum kein Dokumentarfilm, aber er zeigt diese Welt so unverstellt und nah, dass man das Gefühl des fiktionalen Films verliert. Die libanesische Regisseurin erzeugt diesen Eindruck mit jahrelanger Recherche und Befragung von betroffenen Kindern, denen sie als letztes folgende Frage stellt: „Bist du glücklich am Leben zu sein?“.

Verstärkt wird der dokumentarische Eindruck durch die Besetzung. Fast alle Personen, inklusive der Hauptfigur, werden durch Laienschauspieler dargestellt, die aus einem ähnlichen Milieu kommen oder immer noch darin leben. Zain Al Rafeea, der im Film Zain spielt, ist im wirklichen Leben mit seiner Familie aus Syrien in den Libanon geflohen. Die Darstellerin von Rahil wurde während der Dreharbeiten sogar festgenommen, wegen unzureichender Aufenthaltsgenehmigung. Was den Figuren im Film widerfuhr, passierte auch in der realen Welt. Anders als „Slumdog Millionär“ ist Capernaum kein bemitleidender Blick vom Westen auf das Elend fremder Gesellschaften, es ist ein Blick aus aus dem betroffenen Land selbst, adressiert an die ganze Welt.

Der politische Film

Was muss ein politischer Film mitbringen um nicht nur eine verkünstelte Zurschaustellung zu sein und gezielte Bemitleidung zu erregen?

Es gilt eine Botschaft zu vermitteln, die allgemeingültig für etwas Größeres stehen kann. Damit nutzt der Film nicht das Elend des Gezeigten aus, sondern nutzt die Bilder als ein Beispiel für eine übergreifende moralische Absicht oder politische Kritik. Dabei hängt das „Politische“ immer auch vom „Ästhetischen“ ab. Der Film muss die Sensibilität aufweisen, um über das eigentliche Thema hinausweisen zu können – eine Reibung mit dem eigenen Leben, nicht nur eindeutige Verurteilung des Fremden. Die Authentizität gewinnt der Film durch eine wahrhaftige Darstellung der Figuren und Handlungen. Dazu gehört zum Beispiel, dass keine Weiß-Schwarz-Zeichnung erfolgt, also durch die „bösen Täter“ und „guten Opfer“ eine erzwungene Haltung erzeugt wird. Außerdem sind Close-Ups auf bewegte Gesichter, Slo-Motion-Kamerafahrten und der Einsatz von emotionaler Filmmusik eine Form der Gestaltung, die künstlich Rührung erzeugt. Für eine politische Aussage braucht es diese Mittel gar nicht. Was aber nötig ist, ist eine ausreichende Aufklärung der Umstände, wie es zu der tragischen Situation gekommen ist, am besten aller Facetten. Nur so schafft man es, das Schicksal einer Figur auf ein allgemeines politisches Problem zu projizieren.

Die politische Botschaft von Capernaum

Nadine Labaki bewegt sich mit Capernaum auf einem schmalen Grat. Sie geht in die Tiefe mit einer realen Darstellung der Lebensumstände von Kindern im Libanon. Und natürlich zeigt sie auch schreckliche Bilder von verwahrlosten Kindern, überlaufenen Flüchtlingslagern oder heruntergekommenen Hütten als Wohnungen. Worauf aber weitestgehend verzichtet wird, sind emotionalisierende Bilder durch eine berechnende Inszenierung des Traurigen, Elenden.

Die Figuren in Capernaum lassen sich nicht klar in „gut“ und „böse“ einteilen. Natürlich fiebert man mit Zain mit und hofft, dass er es schafft sich ein besseres Leben aufzubauen, aber auch er klaut, macht krumme Geschäfte und hat ein sehr grobes Auftreten gegenüber anderen. Er erfüllt nie die typische Opferrolle, ganz im Gegenteil, man kann an ihm beobachten wie seine Familiengeschichte, die Einflüsse von den Straßen Beiruts und die wachsende Verzweiflung ihn immer mehr zu einem Menschen werden lassen, den er eigentlich verabscheut. Seine Verzweiflung treibt ihn soweit, dass er Yonas, das Baby der Putzfrau, für den er wochenlang aufopferungsvoll gesorgt hat, an einen Schleuser verkauft. Er tut also genau das Gleiche wie seine Eltern, er verkauft einen Menschen.

Aber nicht nur Zain ist eine gespaltene Figur, nahezu Alle offenbaren verschiedene Seiten von sich. Auch die Eltern von Zain zeigen im Gerichtssaal eine Form der Reue und man fängt an zu verstehen, wie sie zu solchen Eltern werden konnten. Der Film klärt einen nach und nach über alle Vorgeschichten und Einflüsse auf, die zu dieser tragischen Geschichte geführt haben und so gelingt das Kunststück, übergreifende politische Kraft zu entfalten. Die Figuren haben keine Chance, sie zerbrechen an der Perspektivlosigkeit, falsch verstandener „Männlichkeit“, der Doktrin ihres Glaubens, den willkürlichen Ein- und Auswanderungsgesetzen und dem Einfluss von Armut bis hin zu Menschenhandel und damit dem „Wert“ eines Menschen. Mit seiner Anklage klagt Zain nicht nur seine Eltern an. Sie ist ein Vorwurf an die ganze Welt, die es zulässt, dass Kinder in eine Welt ohne Perspektive und Fürsorge geboren werden, dass nicht der Mensch zählt der geboren wird, sondern das Land und die Eltern entscheiden, welche Chancen das Kind haben wird. Die Klage richtet sich also gegen die gegenwärtigen Asylverfahren, gegen die Kluft zwischen Arm und Reich und vor allem gegen das Wegschauen der westlichen Gesellschaft und Politik, denn Zain ist nur ein Junge von vielen Millionen Kindern, denen dieses Schicksal obliegt.

Neben der tiefen Betroffenheit während des Films stellt sich noch ein weiteres Gefühl ein: man ist wütend auf die Welt, wütend auf Systeme, die so etwas zulassen und vielleicht sogar wütend auf sich selbst, wie wenig man doch dagegen tut und wie sehr man wegschaut. Das alles richtet sich aber nicht nur gegen den Libanon und den dort herrschenden Zuständen. Aus dieser Wut wird ein Bewusstsein, sich selbst zu hinterfragen, im besten Fall sogar Engagement – die politische Aussage des Films ist somit allgemeingültig und wertvoll.


Bildnachweis:

Foto: ©Alamode (Central) Filmverleih (Capernaum-StadtDerHoffnung∏AlamodeFilm#2)

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