
Ein Beitrag von Fabian Macco.
Wie Hellblade: Senua’s Sacrifice die Psychose entstigmatisiert
Eine Stimme warnt mich, ich solle nicht hineingehen, eine andere sagt, es sei der einzige Weg – ich greife die Fackel am Eingang und betrete den Grabhügel. Von Dunkelheit umhüllt stehe ich nun im Inneren, sehe kaum mehr als die schwachen Umrisse einiger Holzkisten. Die Stimmung ist beklemmend, ich weiß nicht, was mich erwartet. Eine Männerstimme ruft unverständlich aus einiger Entfernung. Ich werde mich an ihr orientieren, um einen Weg durch das Labyrinth zu finden.
Im Videospiel Hellblade: Senua’s Sacrifice wird der Spieler häufiger vor Herausforderungen wie diese gestellt. Das Besondere: die Spielmechanik ist dabei auf äußerst kreative Art und Weise mit der Biografie und Psyche der Hauptfigur Senua verwoben.
Handlung
Die junge keltische Kriegerin aus dem späten 8. Jahrhundert muss nach der Rückkehr in ihr Heimatdorf auf den Orkney-Inseln feststellen, dass dieses von Wikingern überfallen und alle Bewohner getötet wurden. Als wäre das noch nicht genug, findet sie die Überreste ihres Geliebten Dillion, der durch das grausame Ritual des Blutadlers hingerichtet wurde. Senua begibt sich daraufhin auf den Weg in die nordische Unterwelt Helheim, um Dillions Seele von Hela, der Totengöttin, zurückzufordern. Auf dieser gefährlichen Reise muss sie sich zahlreichen Herausforderungen stellen und Gegner wie den Feuerriesen Surt im Kampf bezwingen.
Auf den ersten Blick eine relativ klassische Heldengeschichte, wäre da nicht die psychische Verfassung der Protagonistin. Senua leidet seit ihrer Kindheit – wie auch ihre verstorbene Mutter – unter einer Psychose, die sich unter anderem durch Halluzinationen, Wahnvorstellungen und verschiedene Stimmen in ihrem Kopf äußert. Ihr Vater Zynbel beschloss daher, sie zuhause festzuhalten. In der Kultur der Kelten nahm man an, Personen wie Senua seien verflucht und würden Unheil über andere bringen. Die Diagnose muss für die Betroffenen in etwa so hilfreich gewesen sein wie die Strategien zur Behandlung. Entweder sie wurden von der Gruppe verstoßen oder fassten – wie Senua – den Entschluss, freiwillig fortzugehen, um ihre „gerechte“ Strafe zu erfahren. Dass jedoch in der Zeit ihrer Abwesenheit alle Dorfbewohner von den Nordmännern abgeschlachtet werden, stürzt die junge Frau nur noch tiefer in die Dunkelheit und auch die Frage nach der eigenen Schuld steht nun mehr denn je im Vordergrund. Die Handlung wird nicht linear erzählt, sondern nach und nach aus einzelnen Bruchstücken in Form von Cutscenes zusammengesetzt.
Die Protagonistin
Nur selten habe ich eine derart starke emotionale Bindung zu einer Hauptfigur aufgebaut wie in Hellblade. Das liegt wohl auch daran, dass Senua in all ihrer Komplexität als Mensch dargestellt wird. Auch wenn man selbst keine Erfahrungen mit psychotischen Störungen gemacht hat, so kann man doch durch die spielerische Umsetzung nachvollziehen, was unsere Heldin durchleben muss. Auch die dunkelsten Momente werden dabei nicht ausgespart. Es macht einen betroffen, wenn man die sympathische junge Frau in völliger Verzweiflung schreiend am Boden liegend sieht.
Der Kontrast, der entsteht, wenn das Spiel von den wenigen schönen Momenten in Senuas Leben erzählt, könnte kaum größer sein. In der Szene, die zeigt, wie sie zum ersten Mal auf Dillion trifft, bewegt man sich über eine bunte Blumenwiese mit leuchtenden Farben und angenehmer Musik im Hintergrund, die einem das Gefühl von Unbeschwertheit und Erleichterung vermittelt. Das Glück hält jedoch nicht lange an. Die Blumenwiese weicht bald wieder der kargen und leblosen Landschaft und wo gerade noch Dillions Stimme zu hören war, schreien Senua nun verschiedene Stimme an, die ihr die Schuld an seinem Tod geben.
Dass dies alles authentisch und menschlich wirkt, stärkt enorm das Bedürfnis, sie auf ihrem schweren Weg begleiten zu wollen. Zu verdanken ist das vor allem der Performance von Melina Jürgens, die eigentlich als Video-Editorin beim britischen Spieleentwickler Ninja Theory arbeitet und eher zufällig zu ihrer Schauspielrolle kam. Die fehlende Schauspielerfahrung merkt man ihr zwar ab und zu an, dies lässt sich aber gut verkraften. In einigen Fällen habe ich sogar das Gefühl, es ist genau dieser Mangel an Perfektion, der Senua verletzlich und lebensechter wirken lässt. Die Bewegungen und Mimik der Spielfigur wurden mithilfe eines Motion-Capturing-Verfahrens ins Spiel übertragen und wirken dadurch sehr natürlich.
Psychosen und deren Umsetzung im Spiel
Ein Thema wie psychotische Störungen in einem Videospiel zu behandeln, ist schon ein gewagtes Unterfangen und in dieser Form so noch nicht vorgekommen. Das Team von Ninja Theorie geht das Projekt glücklicherweise mit dem nötigen Respekt und viel Einfühlungsvermögen an. Wieviel Energie in die Entwicklung gesteckt wurde, spürt man deutlich. Es zeigt sich unter anderem an der Zusammenarbeit mit Experten wie dem Psychiater Professor Paul Fletcher von der Universität Cambridge. Außerdem wurden Patienten mit psychotischen Erkrankungen aktiv in den Entstehungsprozess mit eingebunden, was zu einer überaus authentisch wirkenden Spielerfahrung führt. Deren persönliche Erfahrungen wurden auf unterschiedlichste Art auf die Spielmechanik übertragen. Betroffene berichten beispielsweise davon, dass ihre Umgebung wirkt, als sei sie aus vielen einzelnen Bruchstücken zusammengefügt, die sich je nach Perspektive verschieben. Im Spiel gibt es einige Rätselpassagen, in denen man zum Beispiel solche Bruchstücke vorfindet, die – von der richtigen Position aus betrachtet – neue Wege eröffnen.
Den größten Einfluss auf die Spielerfahrung haben jedoch die Stimmen im Kopf, von denen die meisten Personen mit einer Psychose berichten. Wie genau sich dies äußert ist individuell sehr verschieden. In Senuas Fall können den einzelnen Stimmen bestimmte Eigenschaften zugeordnet werden. Ein paar versuchen, uns mit Ratschlägen zur Seite zu stehen, andere lachen über uns und machen einen eher hinterlistigen Eindruck. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie fast in jeder Situation präsent sind und das Geschehen kommentieren. Welche Stimme gerade dominiert, hängt stark vom jeweiligen Zustand und der Situation der Heldin ab.
Sounddesign und Musik
Für die Aufnahme der Stimmen wurde eine binaurale Aufnahmetechnik verwendet. Dabei handelt es sich in diesem Fall um zwei Mikrofone, die sich im Gehörgang eines Kunstkopfes befinden und dadurch einen besonders realitätsnahen Höreindurck nachbilden können. Die so aufgenommenen Stimmen können präzise geortet werden und es fühlt sich beinahe so an, als würden diese tatsächlich im eigenen Kopf sprechen. Damit der Effekt auch funktioniert müssen allerdings Kopfhörer verwendet werden.
Zur dichten Atmosphäre im Spiel tragen auch die sorgfältig gestalteten Soundeffekte bei. Besonders die Windgeräusche, das Rauschen der Wellen in manchen Bereichen und ein gelegentliches Donnergrollen verstärken das Gefühl der Kälte, die in Senuas Welt allgegenwärtig ist. Die Sorgfalt in der Gestaltung der Klangebene zeigt sich auch in scheinbar nebensächlichen Details wie den Atemgeräuschen, die sich kontinuierlich anpassen und die Protagonistin sehr lebendig wirken lassen. Ein Kritikpunkt ist die teils schwankende Qualität der einzelnen Sounds. Besonders Schrittgeräusche durch Wasser und Pfützen wirken wie Platzhaltersounds mit extrem niedriger Auflösung, die versehentlich im fertigen Spiel gelassen wurden. Dies ist zwar nur eine Kleinigkeit, mindert aber durch das häufige Auftreten unnötigerweise das ansonsten sehr hohe Niveau der Klanggestaltung.
Auf musikalischer Ebene ist Hellblade eher zurückhaltend. In vielen Situationen wie den Rätselabschnitten wird das Geschehen dezent von flächigen Drone-Sounds untermalt, wobei der Gesamtklang auch hier von den Umgebungsgeräuschen und Stimmen in Senuas Kopf dominiert wird. Dies gilt auch für die meisten Kämpfe. Gelegentlich mischen sich dabei ein paar Ethno-Drum-Rhythmen hinzu, der Fokus liegt aber auch hier auf einzelnen Geräuschen wie den metallischen Schwertsounds, die den Hieben eine enorme Wucht und Härte verleihen. Auch während des Kampfes sind die Stimmen nicht verschwunden und warnen uns beispielsweise, wenn ein Gegner versucht, uns hinterrücks anzugreifen.
Ein paar wenige Abschnitte, in denen die Musik deutlich als solche wahrnehmbar ist, gibt es aber auch in Hellblade. Ein Beispiel ist ein längerer Kampf in der zweiten Spielhälfte. Die Musik baut sich hier über die Dauer von ca. 15 Minuten langsam auf, während mehr und mehr Gegner versuchen, uns zu besiegen. Trotz der aussichtslos wirkenden Lage, vermittelt uns die Musik ein Gefühl der Hoffnung und lässt uns weitermachen. Immer wieder stehen wir auf und machen weiter, bis auch der letzte Gegner besiegt ist. Doch auch danach sind wir noch lange nicht am Ziel, die Krankheit ist noch lange nicht geheilt. Man spürt, dass jeder Sieg nur ein kleiner Schritt in Richtung Besserung ist und man ahnt, dass es die ersehnte Heilung vielleicht gar nicht gibt.
Visuelle Gestaltung
Die Welt von Hellblade ist auch optisch äußerst aufwändig und detailreich gestaltet. Die Visualisierung der Areale verbindet sich perfekt mit der Soundebene und erschafft eine dichte Atmosphäre. Zur Lebendigkeit der Umgebung tragen auch die dynamischen Licht- und Wetterwechsel bei. Ein Ziel bei der Gestaltung war es laut Artdirector Stuart Adcock, die Ängste und Albträume der Hauptfigur in eine Bildsprache umzuwandeln. Es ist daher wenig verwunderlich, dass viele Areale wie die Wälder, Strände, Ruinen und Höhlen eher bedrohlich wirken und nicht gerade zum Verweilen einladen.
Steuerung
Hellblade verzichtet auf ein Tutorial-Level, in dem die Spielmechanik und die Steuerung der Spielfigur erklärt werden. Die Tastenbelegung kann zwar im Menü nachgeschaut werden, beruhigt aber nur bedingt die Nerven, wenn man den ersten furchterregenden Gegnern im Kampf gegenübersteht. Trotz der anfänglichen Aufregung gelingt es recht gut, die Feinde zu besiegen. Möglich macht dies das intuitive Kampfsystem. Die Heldin besitzt einen leichten und einen schweren Schwerthieb, kann Angriffen ausweichen oder diese parieren, um dann mit einem wuchtigen Gegenschlag zu kontern. Die Bewegungsabläufe sind überzeugend choreographiert und können meist fließenden aneinandergereiht werden. Dass sich das simple Prinzip nicht zu schnell ermüdet, liegt vor allem an der Möglichkeit, die eigenen Bewegungen präzise zu kontrollieren, und auf vielfältige Weise zu kombinieren. Im Laufe des Spiels wird man im Umgang mit dem Schwert zunehmend sicherer und effektiver, was aufgrund der immer stärker werdenden Gegner auch notwendig ist.
Kamera
Im Gegensatz zu Devil May Cry (2013), dem letzten Spiel der Entwickler, ist die Kamera nicht mehr distanziert über der Spielfigur, sondern folgt dieser mit geringem Abstand und in einem recht tiefen Winkel. Dies hat mehrere Folgen für das Spielerlebnis. In DMC ging es vor allem darum, Gegnerhorden Hack-and-Slay-typisch auf möglichst coole Weise auseinanderzunehmen. Die Kamera erfüllte hier in erster Linie den Zweck, die Übersicht über das Geschehen zu bewahren. In Hellblade dient die größere Nähe dazu, eine persönlichere Bindung zur Protagonistin Senua herzustellen, was dem Spiel gerade in Kämpfen äußerst gut gelingt. Anstatt wie in DMC per Tastendruck ganze Gegnergruppen niederzumähen, nimmt man sich in Hellblade jeden Feind einzeln vor. Seit Dark Souls 3 habe ich keine derart intensiven Kämpfe mehr erlebt. Zwar sind diese nicht ganz so herausfordernd, wirken dafür aber sehr authentisch und rau. Man hat stets das Gefühl, ums eigene Überleben zu kämpfen, was insbesondere in den Boss-Fights zur Geltung kommt. Gelegentlich schlägt die Herausforderung aber auch in Frust um. Und zwar dann, wenn es zu viele Gegner auf zu kleinem Raum werden. Hier macht sich die fehlende Übersicht durch die nahe Kameraeinstellung erstmals negativ bemerkbar.
Abseits des Gemetzels lässt sich die Kamera nach Belieben drehen und die Umgebung kann in Ruhe bewundert werden. Dass es im gesamten Spiel keinerlei Anzeigen gibt, die etwa die verbleibende Lebensenergie, eine Karte oder sonstige relevanten Infos zeigen, trägt enorm zum Eintauchen in die Spielwelt bei.
Fazit
Es ist nicht ganz einfach, das Spielerlebnis in Worte zu fassen. Hellblade ist sicher kein perfektes Spiel – die Kämpfe können stellenweise frustrierend sein und die vielen Rätseleinlagen bremsen gerade gegen Ende den Spielfluss zu sehr ab – und trotzdem halte ich das Spiel für eines der besten und wichtigsten der letzten Jahre. Die Entscheidung, ein so sensibles Thema wie Psychosen im hart umkämpften Gaming-Markt zum Kern eines Videospiels zu machen, erfordert Mut. Dass Ninja Theory es dann auch noch schafft, die Geschichte um Senua derart einfühlsam und glaubwürdig zu erzählen, ohne in Klischees zu verfallen, ist schon eine enorme Leistung. Die Übertragung der Krankheitssymptome auf die Spielmechanik lässt einen das Leiden zumindest im Ansatz nachvollziehen. Die Frage, was wirklich passiert und was nur in Senuas Kopf stattfindet, steht nach kurzer Zeit schon nicht mehr im Mittelpunkt. Für sie – und damit auch für uns als Spieler – sind die Geschehnisse real. Hellblade entstigmatisiert die Psychose, indem es Betroffene nicht einfach als verrückt abstempelt, sondern als Menschen darstellt, die Dinge wahrnehmen, welche für andere verborgen sind.
Wer das Spiel erleben möchte ohne selbst zu spielen, kann sich hier ein unkommentiertes Playthrough anschauen.
Hier noch der Playlist-Link zu allen Videos des Entstehungsprozesses von den Entwicklern.
© für das Bild: Ninja Theory Ltd. (Used by permission)