
Wie man Musik mit Worten fassen kann.
Ein Beitrag von Marie Braun.
Musik kann ein ganzes Kaleidoskop an Reaktionen in unserem Körper auslösen. Emotionen kommen zutage. Erinnerungen, Wünsche oder Sehnsüchte werden geweckt. Es entstehen Bilder im Kopf, abstrakt oder ganz konkret. Wir werden ruhig und still, oder wir verspüren den unwiderstehlichen Drang uns im Rhythmus der Musik zu bewegen. Vielleicht entsteht auch der Wunsch, mehr über die Musik in Erfahrung zu bringen oder die Musik nachzuahmen.
Der Austausch über diese musikalischen Erlebnisse ist enorm wichtig in der alltäglichen Kommunikation mit Mitmenschen, im Musikunterricht, sowie für Journalist*innen, Blogger*innen und Kritiker*innen, im gesprochenen wie im geschriebenen Wort.
Doch die wenigsten Reaktionen auf Musik sind ihrem Wesen nach in der sprachlichen Wahrnehmung verwurzelt, sondern auf anderen Wahrnehmungsebenen angesiedelt. Hier öffnet sich ein weites Forschungsfeld der Erkenntnistheorie, in dem Wahrnehmungs- und Denkweisen oder Formen der ästhetischen Erkenntnis untersucht werden.
Wie kann man musikalische Erfahrung also überhaupt in Worte fassen?
Sprache und Musik haben einiges gemeinsam. Beide werden wesentlich über den auditiven Sinn des Gehörs wahrgenommen. Musikalische Parameter wie der Rhythmus, die Melodie und die Artikulation des Gesprochenen sind ganz wesentlich für das Sprachempfinden. Andererseits wird Musik immer wieder mit sprachlichen Eigenschaften beschrieben, spricht zu uns oder ist beredt. Ein Blick in die Geschichte zeigt die Verbindung von Musik und Sprache. Das antike Theater war eine feste Einheit von Musik und Schauspiel. Vokalmusik hatte durch die Jahrhunderte bis heute einen hohen Stellenwert, da offensichtlich beide Bestandteile von der Symbiose in einer Gattung profitieren. Nicht zuletzt finden sich selbst in musiktheoretischen Schriften Äußerungen, die Musik und Sprache in Beziehung zueinander setzen. Bei Johann Mattheson (1681 – 1764) wird Musik als „Klangrede“ beschrieben, Heinrich Christoph Koch (1749 – 1816) vergleicht die musikalische Form mit der Grammatik der Sprache.
Aber es gibt auch gravierende Unterschiede zwischen der Sprache und der Musik. Diese fallen auf, wenn man verschiedene Denkweisen betrachtet.
Hierfür hilft es, die Wahrnehmung als eine Form der medialen Vermittlung anzusehen, die eine weitere gedankliche Auseinandersetzung einleitet. Die äußere Welt wird durch die Wahrnehmung an das Subjekt vermittelt und im Denkapparat auf eine bestimmte Art weiter verarbeitet. Dabei gibt es eine sprachgebundene Verarbeitung, die beispielsweise diskursiv nach Erklärungen oder nach kausalen Zusammenhängen sucht. Das Bild einer Katze auf dem Tisch und der zersplitterten Blumenvase auf dem Boden daneben ist ein Beispiel, in dem sprachliches Denken zu einer klaren Lösung führt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Verarbeitung, die nicht auf der Sprache basiert. Denken kann auch in Bildern, Klängen, Emotionen, Farben und vielem weiteren geschehen – der Geruch von Apfelkuchen, der ein ganz bestimmtes Bild aus der Kindheit aufblitzen lässt oder der alte Werbejingle, der einen plötzlich in die Jugendzeit zurückversetzt. Zugrunde liegen können in diesem Fall Analogien oder Metaphern, die das Wahrgenommene im Denkprozess auslöst.
Bei der Wahrnehmung von Kunst allgemein und insbesondere von Musik kommen in diesen Prozess noch weitere Dimensionen dazu. Ein Kunstwerk besteht einerseits in einer eigenen Wirklichkeit, in der es mit seiner Form, seinem Material und seiner Schönheit besteht. Gleichzeitig vermittelt ein Kunstwerk jedoch auch eine Botschaft, die auf etwas verweist, dass außerhalb der Grenzen des Kunstwerkes liegt. Jedes musikalische Werk hat also gleichzeitig eine inhärente phänomenale Präsenz und eine von sich selbst weg weisende symbolische Bedeutung.
Aus dieser doppelten Existenz von Musik ergeben sich mehrere Wahrnehmungsweisen. Die inhärente Schönheit kann direkt von unseren Sinnen erfasst und verstanden werden. Dieses rein sinnliche Verstehen der Musik benötigt keiner sprachlichen Mittel im Denkprozess und kein Vorwissen. Jedoch verändert ein Vorwissen die Wahrnehmung. Man kann Musik hören ohne irgendetwas über Musiktheorie zu wissen, und wird von der Musik angesprochen. Mit Kenntnissen in der Musiktheorie, wird man ebenso von der Musik angesprochen, nimmt daneben aber noch mehr wahr.
Für ein Nachdenken über die Botschaft und die Bedeutung, die die Musik vermitteln will, benötigt es eine diskursive gedankliche Auseinandersetzung und meist auch ein gewisses Vorwissen. Die Reflexion bedient sich im Denkprozess sprachlicher Mittel. Hier findet sich ein Anknüpfungspunkt für ein Sprechen über Musik, über ihre Entstehung, ihre Hintergründe und ihre Botschaft.
Doch komplett an das Wesen der Musik, an all das, was die Musik unwillkürlich durch ihre sinnliche Präsenz beim Hören auslöst, reicht diese sprachliche Beschreibung nicht heran, da sie die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung komplett ausklammert. Neben der diskursiven Erklärung kann die sprachliche Beschreibung der Emotionen, der Metaphern und Analogien, die die Musik auslöst, eine Ausdrucksmöglichkeit sein. Oder der Versuch, herauszufinden, warum gerade dieses Bild oder jene Erinnerung ausgelöst wurde und was genau, welche musikalische Geste oder welcher Klang gerade diese Reaktion ausgelöst hat.
Dabei kann gerade Musik viele Emotionen auslösen, da der Gehörsinn ein involvierender Sinn ist, der das Subjekt zu einem Teil der Musik werden lässt. Während das Subjekt beim Sehen eine Distanz wahrt und stets am Rande des Gesehenen bleibt, findet das Hören im Subjekt statt. Der oder die Hörer*in wird durch seine Wahrnehmung ein Teil der Musik.
Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy schildert in einem Brief an seinen Lehrer Carl Friedrich Zelter die musikalische Ausgestaltung der Ostergottesdienste, die er bei einem Aufenthalt in Rom im Jahr 1831 miterlebte. Obwohl Mendelssohns Anspruch ein analytischer ist und er viele Momente der musikalischen Gestaltung der Gottesdienste kritisch betrachtet, schreibt Mendelssohn auch über seine Empfindungen beim Hören:
„[…] Drauf fängt die erste Lamentation des Jeremias ganz leise und sanft in C dur an. Es ist eine schöne und ernsthafte Composition von Palestrina, und wenn sie auf das wilde Psalmgeschrei folgt, ohne Bässe, blos für hohe Solostimmen und Tenor, mit dem zartesten Anschwellen und Abnehmen, zuweilen fast unhörbar verschwimmend, und von einem Ton und Accord zum andern sich langsam hinziehend, so macht es sich ganz himmlisch. […] Das große forte in der Dämmerung, und der ernsthafte Klang der von allen Stimmen ausströmt, machen sich wunderschön. […] Es ist eine Todtenstille in der ganzen Kapelle während dieses pater noster, darauf fängt das Misere mit einem leisen Accord der Stimmen an, und breitet sich dann aus in die beiden Chöre. Dieser Anfang, und der allererste Klang haben mir eigentlich den meisten Eindruck gemacht. Man hat anderthalb Stunden lang nur einstimmig, und fast ohne Abwechselung, singen hören; nach der Stille kommt nun ein schön gelegter Accord; das thut ganz herrlich, und man fühlt recht innerlich die Gewalt der Musik; die ist es eigentlich, die die große Wirkung macht.“
(Felix Mendelssohn Bartholdy: Reisebriefe, Kapitel 4, online verfügbar unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/reisebriefe-4431/4 )
Im Bereich des Journalismus und der Pädagogik gibt es heute ganz verschiedene Konzepte und Ideen, um der Sprache über Musik einen Rahmen zu geben. Eine Idee ist, ein Streitgespräch darüber zu führen, warum ein Musikstück gefällt oder auch nicht, mit dem Ziel, das Gegenüber zu überzeugen oder dessen Ansichten nachzuvollziehen. Ein Erfolg dieser Möglichkeit des Sprechens über Musik kann ein Hineinversetzten in ein fremdes Hörerleben sein. Ein anderer Ansatzpunkt ist die Suche nach Momenten in der Musik, die irritieren und beim ersten Hören nicht schlüssig erscheinen. Diese zu ergründen kann näher an das Musikstück führen. Ein Beispiel wäre eine „Text- Musik-Schere“ bei vokaler Musik, wenn der Text scheinbar etwas anderes vermittelt als die Musik. Oder eine Stelle, die als Bruch im musikalischen Geschehen wahrgenommen wird. Von der eigenen Wahrnehmung gelangt man über die Reflexion zu einer neuen, äußeren Betrachtungsweise.
Auch die Bilder und Metaphern des Hörens können Ausgangspunkt für kreativere Auseinandersetzungen mit der Musik sein. Das Bild einer Landschaft, das beim Hören einer Sinfonie entsteht, kann detailreich beschrieben werden, stets in Verbindung mit den musikalischen Merkmalen, die dem Bild zugeordnet werden. Hohe Flötentöne klingen wie Vögel am Himmel, tief grollende Basstöne stellen das gewaltige Bergpanorama am Horizont da. Aus dieser Art des Berichtens über Musik kann eine ganze Geschichte werden, eine sogenannte „Sonic Fiction“. Das individuelle und einmalige Hörerleben entwickelt sich dabei zu einer eigenständigen und freien Geschichte, die als Primärquelle das eigene Hörereignis schildert. Musik wird zur persönlichen Fiktion. (Mehr dazu: https://norient.com/stories/sonicfiction/ )
Der britische Musikjournalist Kodwo Eshun beschreibt in seinem Buch „More Brilliant Than The Sun“ eine neue Form des Schreibens und des Berichtens über die gegenwärtige Musik. Dabei schreibt er:
„Soundmaschinen lassen einen auf der eigenen Haut stranden. Hypersensuale Cyborgs erleben sich als Galaxie audiotaktiler Sensationen. Man ist nicht Zensor, sondern Sensor, nicht Ästhet, sondern Kinästhet. Wir werden Sensationalisten […]“
(aus: Kodwo Eshun: Heller als die Sonne: Abenteuer in der Sonic Fiction, aus dem Englischen von Dietmar Dath, Berlin 1999, S. -001)
Letztendlich ist es egal, wie man über Musik redet oder schreibt, ob knapp oder ausführlich, ob technisch oder emotional, ob theoretisch oder fiktional. Wenn wir zu Sensationalisten werden und genau hinhören, wie wir Musik wahrnehmen, dann werden wir unweigerlich unseren eigenen Hörerlebnishorizont erweitern.
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